Monatsarchiv: Februar 2008

Über das Verfeinern

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„Verfeinern“ – dieses Wort ist für mich der Inbegriff der deutschen Kochkunst. Man nehme ein Fertigprodukt – sei es die Spaghetti-Sauce oder eine Tiefkühlpizza – und fügt dem Gericht noch eine weitere Zutat hinzu, die nicht getrocknet, gefroren oder sonstwie konserviert ist. Man brät also ein paar Zwiebeln an und kippt dann die Fertigtomatensauce darauf. Oder man belegt die Pizza mit etwas frisch aufgeschnittener Wurst.

Dahinter steckt die Philosophie, dass durch die Kombination aus einem eher geschmacklosen Fertigprodukt und einer frischen Zutat ein „leckeres“ Essen entsteht. Viele der Verfeinerungsanweisungen haben explizit ein „leckeres“ Essen als Ziel – in besonderen Fällen geht es um eine „leckere“ Tiefkühlfischpfanne, die mit einem Schuss Sahne oder ähnlichem „noch leckerer“ wird. Also die drittbeste Kombination nach einem vollständig aus frischen Zutaten gekochten Gericht und einem Gericht, in dem überwiegend frische Zutaten mit einer Fertigzutat zusammen kommt. Denn Verfeinern bedeutet, dass die verfeinernde Substanz nur ein Addendum darstellt. Das eigentliche Grundgerüst des Essens ist also unfein.

Verfeinern ist aber nicht dasselbe wie Garnieren oder Würzen. Es geht dabei nicht allein um den feinen Geschmack, sondern um das Gefühl, selbst etwas zum Geschmack beigetragen zu haben. Verfeinern lässt sich nicht auf die verwendeten Substanzen reduzieren, sondern ist (ein residualer) Ausdruck des kochenden Subjekts, die Vergewisserung der eigenen Handlungsfähigkeit und ein Schritt jenseits des sturen Befolgens von Anweisungen. Verfeinern könnte man auch als minimales Residuum einer handwerklichen Nahrungszubereitung bezeichnen. Oder als Simulacrum des Kochens. Durch das Verfeinern eignet man sich eine anonyme, fremde Ware an und macht sie zu einem Werk. Meine These ist, dass das Verfeinern eine notwendige Begleiterscheinung der Convenienceküche.

Mit der ursprünglichen Bedeutung des Verbs hat diese Art von Verfeinern nicht mehr viel zu tun: Kultivieren, Zivilisieren, Humanisieren ist im Fall der zu verfeinernden Fertigprodukte gar nicht mehr nötig. Es handelt sich bereits um zivilisatorische Produkte. Gerade im Fall des Verfeinerns mit roher, frischer Ware geht das Verfeinern eher in das Gegenteil. Man möchte die Künstlichkeit, Zivilisiertheit des Produktes abmildern. Die Gefahren der Verfeinerung beschreibt im Übrigen Jean Paul in „Levana oder Erziehlehre“:

Besonders die Exerzitien des Geschmacksinnes lasse man weg, für dessen haut-goût ohnehin die Küchen die hohen Schulen sind; zumal da wir jetzo nicht erst durch ihn zwischen Gift und Kost zu richten brauchen, sondern vielmehr durch seine Übung an großen Tafeln beide verwechseln lernen, so daß wir, ungleich den Tieren, welche nur jung aus ungeübtem Geschmack auf der Weide zu schädlichen Kräutern fehlgreifen, oft aus verfeinertem gerade nach Giftschüsseln und Giftkelchen langen.

Ein kurzer Blick ins Internet zeigt folgende teils gruselige, teils wohlschmeckende Beispiele für Verfeinerungen:

Kaum ein Weblog, in dem nicht verfeinert wird. In diesem Blog bisher nur sehr abstrakt. Damit das nicht so bleibt, hier eine sehr schöne Verfeinerungen, die von Ferran Adrià selbst stammen soll und in ihrer Schlichtheit wohl kaum zu überbieten ist.

Zutaten

Zubereitung

  1. Die Kartoffelchips mit Pfeffer und Essig anmachen.

(Abbildung „Gemüsesuppe“ von tin.G)

Mode und Manierismus

„Just to much“. Tom Sietsema, der Gastro-Kolumnist der Washington Post hat genug von Degustations-Menüs. Als Vorsitzender des James Beard Restaurant Award Commitee ist sein Wort für die Küche Amerikas nicht ohne Bedeutung.

Im Vergleich zum „früher war alles besser“ und „Molekular ist Verrat an der Nouvelle-Cuisine“-Lamento, das viele seiner Kollegen anstimmen, ist die Kritik Tom Sietsemas aber viel differenzierter. Er hat gar nichts gegen Molekulare Küche, er hat offenbar generell nichts gegen Avantgarde-Rezepte. Seine Kritik richtet sich auf das Zelebrieren des Menus als Ritual:

„[Tasting Menues] tend to be too much food and require too much of a time commitment. (They usually seem to take a good three hours per sitting; I’m a diner, not a treaty negotiator.) […] tasting menus rob customers of their sense of control.“

Und das präzisiert er, indem er Mimi Sheraton von der New York Times zitiert:

„I have never had a menu degustation when I have not wished a few dishes had been dropped in favor of others.“

Dieses Zitat ist von 1981 – es ist also kein Phänomen unserer Tage sondern quält Restaurant-Kritiker schon mehr als ein viertel Jahrhundert.
Dieses Zuviel hat seinen Ursprung laut Sietsemas genau in dem Küchen-Stil, der sich das Weiniger-Ist-Mehr als Parole ans Revers heftete:

„The concept […] stretches back to the dawn of nouvelle cuisine there in the 1970s, when chefs began offering customers a sampling of their vast repertoires via numerous petite versions of the appetizers and main courses.“

In Wahrheit greift Sietsema zu kurz – er beschränkt sich auf die Zeitspanne, die er selbst erlebt hat. Der Ursprung des Menüs mit 20 oder mehr Gängen findet sich am französischen Hof im 17. Jahrhundert.

Um die Macht zurück an den zentralen Königshof zu bringen, verlangte Ludwig der XIV., dass alle Höflinge die Hälfte des Jahres mit ihm in Versailles zu verbringen hätten. In Abstufungen wurden die Adeligen dort zu unterschiedlichen persönlichen Handlungen des Königs zugelassen. Der engste Kreis durfte, das ist weithin bekannt, am Leveé teilnehmen, d. h. den König morgens aus dem Bett begleiten. Der große Teil der Hofgesellschaft sah den König aber nur einmal täglich: beim Diner, bei welchem Ludwig am Kopf des Speisesaals sitzend, sich nacheinander duzende verschiedener Gänge servieren lies – für die anwesenden Zuschauer, die der Prozedur im stehen beiwohnten, gleichzeitig Ehre und Demütigung und auf jeden Fall eine enorme Anstrengung. Ludwig der XV. musste sich bereits nicht mehr so stark vor den potenziellen Konkurrenten behaupten, die Macht war fest bei der Krone verankert. Er verlagerte das Essen in einen privateren Speiseraum, ein Bankett im Familienkreis. Aber es blieb bei den vielen Gängen der Speisefolge.

Diese Fremdbestimmtheit des Gastes durch ein festgefügtes Ritual, das Sietsema den Spass an der Molekularen Küche raubt, hat ja auch etwas höfisches. Ist bei „gewöhnlichen“ Restaurantbesuchen unter Geschäftspartnern oder Freunden das Essen oft stark im Hintergrund – „paralinguistisches Beiwerk“, wie der Small-Talk übers Wetter, damit das Gespräch in Gang bleibt, schlägt das Pendel im Fall des Degustations-Menüs genau in die andere Richtung aus. Das Essen ist das einzige Thema – ein Gespräch lassen die Kellner kaum zu, da sie ja alle paar Minuten einen neuen Gang wortreich erklären müssen.

Außerdem verschleiern die kleinteiligen Menüs mit ihrer endlosen Folge an Amuse-Gueules. Es ist deutlich schwieriger, ein stimmiges Menü aus vier oder fünf Gängen zu kochen – da gibt es nämlich keine Kompromisse. Und ein kleiner Schaum auf einem Löffel ist ganz nett – ein ganzer Teller davon ist schlicht ungenießbar; und dass molekulare Küche skalierbar ist, d. h. auch ganze Hauptgänge bestreiten kann, wird einfach nicht glaubwürdig, wenn es dabei bleibt, „ein Schäumchen hier, etwas Frucht-Kaviar da“ in kleinsten Mengen zu servieren.

Der gewaltige Erfolg von Paul Bocuse war es, die Prinzipien der Nouvelle Cuisine zu verallgemeinern und zur Grundlage einer „Hausmanns-Küche“ zu machen, die für jedermann nachzukochen ist, der sich darauf einlässt. Dieser Erfolg ist nachhaltig, ganz anders als die Sensationen der Star-Küche, die die Nouvelle Cuisine in den 80er Jahren so sehr in Verruf gebracht hatten.

Und auch der Erfolg der Molekularküche, wird sich daran messen, inwieweit die Prinzipien verallgemeinert werden können. Mit Büchern wie „On Food and Cooking“ von McGee, den Küchengeheimnissen von Hervé This oder der Serie von Thomas Vilgis ist die Cuisine Investigative aber gut gerüstet und bodenständig genug, den ‚Hype‚ zu überstehen.

Das Ende der Szechuanpfefferprohibition

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Für mich gehört der Szechuanpfeffer (Zanthoxylum piperitum, der chinesische Blütenpfeffer Hua Jiao) zu den faszinierendsten Gewürzen. Nur leider passt der Name nicht besonders gut zu dem Gewürz, denn mit Pfeffer hat es außer der Kugelform nichts gemeinsam. Tatsächlich ist es die Frucht des Gelbholzstrauches, der mit den Zitruspflanzen verwandt ist (gibt es auch als Bonsai). Der Geschmack ist ganz anders – am besten beschreibt es tatsächlich das Adjektiv „elektrisch“. Denn wenn man eines der Körner zerbeißt empfindet man auf der Zunge einen elektrisierenden Geschmack, in etwa so wie wenn man an den Polen einer 9-Volt-Blockbatterie leckt.

199248051_c125375979_m.jpgMit diesem Gewürz, das in der Szechuanküche einen prominenten Platz einnimmt und essentieller Bestandteil des chinesischen Fünfgewürzepulvers ist, kann man also das übliche fünfdimensionale Koordinatensystem des Geschmacks verlassen und so etwas wie „kulinarische Transzendenz“ erleben. Im Chinesischen gibt es für diesen Geschmack mit sogar ein eigenes Zeichen, das Taubheit, Anästhesie, Lähmung bedeuten kann.

Zu dem elektrisierenden Gefühl, dem Hauptelement des Geschmackserlebnisses, das auch nach dem Herunterschlucken eine ganze Weile anhalten kann, kommt dann noch eine angenehm frische, limonadige Süßsauernote. Dazu dann noch hölzerne Bestandteile – und fertig ist das wunderbare Szechuanpfefferbouquet. In den USA gab es seit 1968 kaum eine Möglichkeit, das auf legalem Weg zu erleben, den Szechuan war dort fast 40 Jahre lang verboten. Von wegen „Amerika, du hast es besser„. Man befürchtete nämlich, dass sich durch das Gewürz ein Baumkrebs („canker„) auf den ökonomisch bedeutenden amerikanischen Zitrusplantagen ausbreiten könnte. Kurios ist dabei die Tatsache, dass dieser Erreger Xanthomonas die Grundlage für die Produktion des Hydrokolloids Xanthan ist. Die US-Regierung hat also der Bevölkerung die Möglichkeit, eine authentische Szechuanküche zu schmecken, genommen, um im Pflanzenschutz auf der sicheren Seite zu sein.

2094250747_9d8c3afa9f_m.jpgJetzt wurde dieses Verbot wieder aufgehoben und die Chinarestaurants des Landes können wieder ihre kalten Nudeln mit Szechuanpfeffer, ihr Hühnchen in Szechuanpfefferöl, die warmen Nudeln in Szechuanpfeffersauce und die grünen Bohnen mit zerstoßenem Szechuanpfeffer genießen. Und wer weiß wie viele Amerikaner von der anästhesierenden Würzigkeit der Körner fast schon abhängig werden. Eine habe ich schon gefunden. Saucy Contessa schreibt nämlich: „it is what we use as our everyday pepper – this goes in almost everything we cook!“ Dabei ist die von diesem Gewürz ausgelöste Geschmacksempfindung, wie Harold McGee schreibt, eine faszinierende Angelegenheit. Es werden verschiedene Nervenenden angeregt, ein Berührungs- und Kältegefühl zu senden, die normalerweise für diese Empfindungen gar nicht zuständig sind. Er spricht demzufolge von einer „neurologischen Verwirrung“.

Trotz der Aufhebung der Szechuanpfeffer-Prohibition – legal verkauft werden kann das Gewürz aber nur, wenn es kurzzeitig auf 70°C erhitzt wurde -, ist es in den USA noch längst nicht überall zu finden. Aber es steht bereits in den virtuellen Regalen von amazon.com und kurioserweise beziehe ich meine Körner ebenfalls von einem amerikanischen Anbieter.

Auch die Blogosphäre kocht gerne mit diesem Gewürz, von einer Apfel-Kokos-Möhrensuppe über ein Grünes Spargel Sushi mit Szechuan-Pfeffer oder ein Fondue mit asiatischem Gewürzsud bis hin zu Ricottatörtchen oder einer asiatischen Glühweinvariante.

(Abbildungen „HuaJiao (Sichuan Pepper)“ und „HuaJiao field (Sichuan Pepper)“ von Philou.cn, „Shrimp“ von Laurel Fan)

Video: Kochmützen in der molekularen Küche

Das erste achtminütige Video des Molekularküchen-Kochkurses der Kochmützen ist jetzt online. Man sieht dort, untermalt von einer etwas penetranten Home-Shopping-meets-Warteschleifenmusik, wie 18 staunende Köchinnen und Köche um Lars Ginsberg herumstehen und staunen: über kryogekochten Champagnergries, über Olivenölnudeln, Rote-Beete-Kaviar und Espumas aller Art:

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Jede Menge AgarAha-Effekte und man lernt: die Olivenölnudel „wird fest und schmeckt tatsächlich auch nach was“.

Spreckels Rotisserie 1904 – ein Fundstück

Beim Blättern in meinem neu erworbenen Exemplar von Wards Grocer’s Encyclopedia stieß ich auf ein faszinierendes Relikt: eingelegt war die Speisekarte von Spreckels Rotisserie aus San Francisco vom 2. September 1904.

Die Spreckels Rotisserie „In the Clouds“ befand sich im 14. Stock (15th floor) des Call Building, zu dieser Zeit das höchste Gebäude an der Westküste der USA, das 1884 von dem Zuckerfabrikanten Claus Spreckels errichtet wurde, einem gebürtigen Deutschen.

Die Speisekarte wirbt:

From the floor of the Café there is an unobstructed view of the entire city, bay and surruounding country. North, East, South, West, in every direction, the eye beholds a panorama of still and active life, nature and art.

Das faszinierende an der Karte sind zwei Aspekte. Zum einen sehen wir ein Touristen-Menu in Californien zu Beginn des 20. Jahrhunderts, d. h. fernab von Europa und noch wirkliches Frontier-Gebiet, zum zweiten aufgrund der Aura: nur anderthalb Jahre später wurde San Francisco durch ein Erdbeben verwüstet und auch das Spreckels Gebäude brannte vollständig aus.

Das Menu unterscheidet sich gar nicht so stark von Speisekarten an der Westküste von heute, sieht man von mexikanischen oder asiatischen Einflüssen ab. Sehr typisch sind doch die Venusmuscheln – als Chowder oder gedämpft, Kabeljaupastete, Prime-Rib-Steak, Hühner-Sandwich und insbesondere die Auswahl an Ice Cream.

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Hier der Transkript:

       
SOUPS.
Clam Chowder Consommé Vermicelli Tomato
SALADS.
Cucumber Lobster Crab
Radishes Sliced Tomatoes
 
FISH.
Halibut Codfish Cake with Bacon Salmon à la Hollandaise Sea Bass
Smelts Tom Cod English Sole Salmon
Fresh Cod Fillet of Sole, Tartar Sauce Steamed Clams
 
ENTREES.
Fried Chicken Maryland Filet Mignon with Peas
Breaded Pig’s Feet with Spinach Ox-Tail Sauté Family
 
VEGETABLES.
String Beans Suffed Bell Peppers
 
ROASTS.
Prime Rib of Beef Spring Lamb au Jus
Squab Chicken on Toast
 
DESSERT.
Ice Cream Vanilla Pistachio Strawberry
Water Ice Orange Lemon Romain Punch
Assorted Cakes Fresh Fruit Café noir
 
Extra
Straberries and Cream 25 cts. Nutmeg Melon 25 cts.

Der Geruch des Weltraums

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Das hier wäre doch einmal eine wirkliche Herausforderung für die molekulare Küche à la Heston Blumenthal: der Geruch des Weltalls. Der ISS-Wissenschaftsoffizier Don Pettit beschreibt in seinem Weltraumtagebuch diesen unmöglichen Geruch – unmöglich, da das Vakuum eigentlich gar nicht riechen kann – nämlich wie folgt:

Each time, when I repressed the airlock, opened the hatch and welcomed two tired workers inside, a peculiar odor tickled my olfactory senses. At first I couldn’t quite place it. It must have come from the air ducts that re-pressed the compartment. Then I noticed that this smell was on their suit, helmet, gloves, and tools. It was more pronounced on fabrics than on metal or plastic surfaces. It is hard to describe this smell; it is definitely not the olfactory equivalent to describing the palette sensations of some new food as „tastes like chicken.“ The best description I can come up with is metallic; a rather pleasant sweet metallic sensation.

Doch wie soll man sich diesen Geruch vorstellen? Nach Pettit ist der süßliche Geruch, der beim Umgang mit einem Schweißgerät entsteht (meint er den süßlichen Geruch bei der Verbrennung des Acetylengases?) dem Weltraumduft am ähnlichsten. Aber: Wie aber kann man überhaupt den Weltraum riechen? Im Fall des nach Schießpulver riechenden Mondstaub) kann man sich das ja noch einigermaßen vorstellen. Die direkte Sinneserfahrung des Weltraums jedoch ist theoretisch möglich, aber lebensgefährlich.

Kein Problem, es gibt schließlich noch andere kulinarische Erfahrungen die lebensgefährlich sind. Und das scheint den Genuss sogar noch zu beflügeln. Man denke zum Beispiel an den in Japan genossenen Kugelfisch (Fugu). Auch einige Studien wie etwa von Pollatos et al., kommen zu dem Ergebnis, dass Gerüche durch unangenehme Emotionen zwar unangenehmer, aber intensiver wahrgenommen werden.

Das Problem mit dem Weltraum ist aber nicht nur, dass es wenig zu beißen gibt (nicht einmal Luft), sondern vor allem, dass es der kosmische Gourmet nicht überleben würde, diesen Ur-Geruch einzuatmen. Ja, er oder sie käme wahrscheinlich nicht einmal dazu, einen tiefen Atemzug zu machen. Die einzige Möglichkeit ist, das berichtet auch Pettit, die indirekte Erfahrung des Geruchs. Einige schwebende Geruchspartikel bleiben anscheinend an der Oberfläche von Weltraumanzügen hängen und können nach der Wiederherstellung einer überlebensfähigen Atmosphäre gerochen werden. Jetzt frage ich mich nur, warum der Wissenschaftsoffizier nicht sofort seine Messinstrumente geholt hat um einmal nachzumessen, welche volatilen Verbindungen für den smell of space verantwortlich sind. Das wäre doch einmal eine spannende Grundlage für echtes space food. (via)

(Abbildung „Building the ISS“ von dgroth)

The Grocer's Encyclopedia von Artemas Ward

Amerika, du hast es besser
als unser Kontinent, der alte,
hast keine verfallenen Schlösser
und keine Basalte.
Dich stört nicht im Innern
zu lebendiger Zeit
unnützes Erinnern
und vergeblicher Streit.
Goethe, Xenien

In Goethes Würdigung der Neuen Welt steckt einige Wahrheit. Der durchschnittliche Lebensstandard in den Vereinigten Staaten war bereits ab Mitte des 18. Jahrhunderts, von Europa weitgehend unbemerkt, zur Weltspitze geworden. Gleichzeitig ist die junge amerikanischen Kultur, wie Goethe richtig bemerkt, weitgehend frei vom Ballast und der Enge der bourgeoisen Traditionen. Zu dieser Kultur gehörte auch ein anderer Umgang mit Lebensmitteln. Sehr pragmatisch und auf eine bequeme Versorgung ausgerichtet entwickelte sich im 19. Jahrhundert die Branche der sogenannten Konsumgüter, deren Vertriebskanal ein gut organisierter Groß- und Einzelhandel bildete: The Grocery.

Und die neuen Konsumgüter wurden auf völlig neue Art vermarktet! Ivory hieß etwa die erfolgreichste Seife der Weltgeschichte, 1880 von Procter & Gamble eingeführt – ein Versprechen, Haut wie Elfenbein zu bekommen. Was als Reklame begonnen hatte, wurde schnell zu Marketing, ‚Die konsequente Ausrichtung auf den Markt‘. Die Berufsbilder des Advertisers und des Public Relations Expert wurden zu Leitbildern der Wirtschaftskultur des 20. Jahrhunderts; John Dos Passos schildert dies in seinem gewaltigen Roman USA auf eindrucksvolle Weise.

Einer dieser Advertiser war Artemas Ward (1848-1925). Um die Lebensmittelhändler mit der nötigen Information auszustatten, die vielseitigen Produkte den Kunden näher zu bringen, verfasste er 1911 die Grocer’s Encyclopedia.

Dieses epochale Werk gibt auch heute noch zeitgemäße Beschreibung für mehr als 1.200 Begriffe, alphabetisch angeordnet von Abalone, einem pazifischen Krebs, bis zu Zwetschgenwasser (the German form of SLIVOVITZ). Dabei findet sich jeder wichtige zeitgenössische Begriff im Umfeld von Lebensmitteln, neben den Rohstoffen, den Früchten, Gemüsen, Tieren auch Konservierungsstoffe und -techniken, Maße und Gewichte.

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Mein Exemplar war interessanter Weise wohl einst als Werbegeschenk an Händer verteilt worden: „When You Consult This Book REMEMBER PURITAN COCOA & CHOCoLATE“.

Nach US-Copyright ist das Werk heute frei verfügbar und man kann es auf Feeding America als HTML Transkript, als Faksimile oder pdf nutzen.

This Encyclopedia attempts to give some information on every article of food and drink, and also touches on many other interesting items handled by General Storekeepers. […]The number of new fruits which during the last few years have found their way into our markets; the large, and constantly increasing, variety of other foods and food delicacies, both domestic and imported, now offered for popular consumption, and the noteworthy growth of public interest in, and knowledge of, food values, make it essential that the modern grocer keep himself thoroughly informed and up-to-date.

Faszinierend auf zweierlei Weise: als Sonde, die uns vom Beginn der modernen Lebensmitteltechnik berichtet und als Dokument der Geschichte der Amerikanischen Küche.

Das großartigste daran sind allerdings die 80 ganzseitigen Farbabbildungen, die das Buch zu einem bibliophilen Schatz machen (vergleichbar Meyers 6. Auflage).


Hier die Seite mit dem furchterregenden Butterfisch (Nr. 4)

Pappardelle mit Vanille-Parmesansauce

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Diese frischen Nudeln mit Vanille-Parmesansauce sind geradezu ein Paradebeispiel für Ferran Adriàs Vorgehen, durch die ungewöhnliche Kombination von eigentlich recht gewöhnlichen Zutaten, ein horizont-erweiterndes Geschmackserlebnis hervorzurufen. Zunächst konnte ich mir die Kombination nicht gut vorstellen, Vanille im Risotto – klar. Aber in der Kombination mit frischen Eiernudeln?

Die Zweifel sind dann aber sofort verflogen als ich den ersten Bissen im Mund hatte. Man schmeckt sofort den würzig-pikanten Parmesangeschmack, doch dazu gesellt sich dann eine herrliche Vanillenote am hinteren Gaumen – irgendwo zwischen Barriqueausbau und Weihnachten. Aber nicht penetrant, und beim Zerbeißen der Nudeln wird das Geschmackspaar noch durch den leichten Eiergeschmack ergänzt. Zutatenminimalismus bei maximaler Gaumenstimulation. Außerdem ein spannender Hinweis, dass das Verfahren der Flavour pairings (siehe auch hier) nur einer von mehreren denkbaren Wegen ist: Parmesan und Vanille haben jeweils sehr komplexe Geschmacksbuketts, dabei aber meines Wissens keinen gemeinsamen Geschmacksstoff.

Zutaten (2 Personen)

  • 200g Mehl
  • 2 Eier
  • Olivenöl
  • Salz
  • 1 Vanilleschote
  • 50g Parmesan

Zubereitung

  1. Mehl und Eier vermischen und mit etwas Olivenöl und Salz zu einem geschmeidigen, aber nicht zu weichen Teig verkneten. 1/2 bis 1 Stunde kühl ruhen lassen.
  2. Teig sehr dünn ausrollen (Nudelmaschine auf Stufe 9) und ca. 10mm breite Nudeln ausschneiden.
  3. Wasser mit etwas Salz und Öl zum Kochen bringen. Nudeln kochen.
  4. Die Hälfte des Parmesankäses reiben und in etwas heißem Nudelwasser auflösen. Vanillemark dazugeben und 1 EL Öl. Gut verrühren.
  5. Nudeln mit der Vanille-Parmesansauce anrichten und Parmesan darüber reiben.

Adrià in Berlin: Kulinaristik und das Erhabene

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Über den kulinarischen Schwerpunkt der diesjährigen Berlinale berichtet Arnold Hohmann für das WAZ-Portal „Der Westen“. Er zitiert Ferran Adrià, der in einer – wie zu erwarten war – nicht besonders kontroversen Diskussion mit dem Slow Food-Gründer Carlo Petrini unter anderem auf die Notwendigkeit eines Wandels im Essverhalten der Leute hinwies: „Wir dürfen nicht immer so unbeteiligt essen, als ob wir im Flughafen säßen“ oder „Wir müssen wieder lernen, uns beim Essen auf das Essen zu konzentrieren“. Das ergibt Sinn, wenn man es in Richtung der gustatorisch wie kognitiv anspruchsvollen Post-1993er elBulli-Küche denkt (siehe dazu auch die schöne Zusammenfassung in diesem pdf-Dokument „The Story of elBulli“). Vor dem Hintergrund von Adriàs Beteiligung an der Fastfoodunternehmung „Fast Good“ klingt das eher seltsam. Auch wenn man dort mit guten Zutaten hantiert und Produkte kreiert, die im Gegensatz zu McDonalds und Burger King etwas mehr wagen als eine geschmackliche Regression auf kulinarische Mittelwerte – das Ziel, mit allen Sinnen einschließlich der Vernunft zu essen, wird wohl auf diese Weise eher nicht erreicht.

Während es also Petrini und der Slow Food-Bewegung darum geht, das Produkt auf dem kürzesten Weg vom Bauern zum Teller zu bringen, sucht die elBulli-Philosophie eher nach dem kürzesten Weg vom Teller zum Gehirn. Im Westen-Artikel heißt das dann wird das dann zweideutig „Suche nach neuen Sensationen auf der Zunge“ genannt und drückt genau die zwiespältige Rezeption der Molekularküche (ein Begriff, den Adrià selbst fast nie für seine Art des Kochens verwendet) aus: auf der einen Seite die Sensation im Sinne der Wahrnehmungspsychologie (nach Campe „sinnliche Empfindung und Gefühl“). Auf der anderen Seite Sensation als Spektakel im Debordschen Sinne, als bloßer Wow-Effekt, der sich vor die notwendige gastrosophische Erkenntnis setzt und sie verbirgt anstatt sie zu befördern.

Immer mehr wird mir deutlich, wie wichtig Adriàs Küche für die Beförderung des Nachdenkens über Essen und Geschmack wird. Bislang stellte sich das nämlich als fast schon vulgärdialektisches Gegensatzpaar aus dem unreflektierten „Leckerismus“ auf der einen und einer philosophisch gut begründbaren Abneigung des guten Geschmacks als bürgerliche Ideologie. So finden sich etwa bei Adorno immer wieder Attacken gegen die kulinarische Passivität:

Vor allem aber, Musik ist insofern untilgbar geistig, als auch auf ihrer niedrigsten Stufe das sinnliche Element nicht derart buchstäblich sich genießen läßt wie eine Kalbshaxe. Gerade wo sie kulinarisch serviert wird, ist sie von vornherein ideologisch versetzt (Dissonanzen. Einleitung in die Musiksoziologie, IV. Klassen und Schichten).

Oder in seiner ästhetischen Theorie: „Ästhetik, die nicht in der Perspektive auf Wahrheit sich bewegt, erschlafft vor ihrer Aufgabe; meist ist sie kulinarisch.“ Adriàs Kochkunst ist paradoxerweise gleichzeitig ein Michelin-zertifizierter kulinarischer Hochgenuss wie auch ein unkulinarischer Umgang mit dem breiten Repertoire aus (zumeist lokal katalanischen – allein die häufige Verwendung von Meerwasser aus der Montjoi-Bucht!) Zutaten und Zubereitungstechniken. Und ist Adriàs Küche, die schon Anfang der 1990er Jahre mit ungewöhnlichen Geschmackskombinationen spielt („Blanchiertes Knochenmark mit Kaviar“) und seit Mitte der 1990er dies noch durch ein dekonstruktivistisches Formenspiel radikalisiert, nicht allzu ähnlich der Lyotardschen Verweigerung der viel zu traditionell gebliebenen Formen des
Schillerschen Erhabenen?

Auch der zweite Abend mit Ferran Adrià, an dem David Pujols „El Bulli – Història d’un somni“ sowie Anthony Bourdains „Decoding Adrià“ gezeigt wurde, ist diesem Bericht nach ein echtes Erlebnis gewesen. Adrià hatte dort die Gelegenheit, seine Molekularküche (mich würde interessieren, ob er sein Vorgehen in Berlin so bezeichnet hat oder nicht) zu erklären und darauf hin eine der Grundfragen des wissenschaftlichen Kochens zu formulieren, die für Ullrich Fichtner sicher der ultimative Beleg für Irrsinn wäre, nämlich „warum man beim Frühstück zuerst den Kaffee trinkt und dann das Ei ißt und beim Mittagessen zuerst das Ei ißt und dann den Kaffee trinkt“.

(Abbildung Cala Montjoi von Marc Bernet)

Durchs Meer des Irrtums surfen – Fichtner über die Foodblogosphäre

… die Jugend … mit allen ihren Fehlern
von denen sie sich zeitig genug verbessert,
wenn nur die Alten keine solche Esel wären (Goethe, na klar)

fichtner.jpgMit seiner gnadenlosen Analyse der deutschen Esskultur in „Tellergericht“ hat er den Blick der Lesenden hierzulande endlich einmal auf das gelenkt, was von Tag zu Tag auf den Tellern und schließlich in den Mägen landet. Warum muss Henri-Nannen-Preisträger und Wahlpariser Ullrich Fichtner nun in einer derart galligen Mischung aus Arroganz und Nichtwissen über die deutsche Foodblogszene schreiben? Natürlich ist nicht alles durchrecherchiert und Rechtschreibung wie Stilistik werden in vielen Blogs gerne öfters mal vernachlässigt. Aber mit einem pinselhaften Artikel, wie ihn Fichtner auf Spiegel Online in a fine frenzy rolling gerade abgeliefert hat, tut er dem Lager der Journalisten in der ewigen Qualitätsdebatte einen Bärendienst. Also nicht einmal viel Irrtum und ein Fünkchen Wahrheit (aber wenn ich mich recht erinnere, war auch das letzte Spiegel-Tellergericht eher fade Mikrowellenkost).

Der Teaser klingt zunächst so vielversprechend: „Wer gerne kocht, kommt im Internet auf den Geschmack? Nicht unbedingt. Die zahllosen Kulinarik-Blogs versalzen einem nämlich schnell das Vergnügen.“ Ich habe mir eine luzide, wenn auch kritische Darstellung der Schwächen von Foodblogs gewünscht. Denkste. Es folgte in gebetsmühlenhafter Wiederholung das alte Argument von der fehlenden gesamtgesellschaftlichen Relevanz der Foodblogs. Da sind wir wohl gerade Zeugen des letzten Aufbäumens einer aussterbenden Spezies (wie Thomas treffend bemerkt). Ein paar Beispiele dafür, was Fichtner zum „Zähneknirschen“ bringt:

  • Niemand will etwas über die verschiedenen Teeaufgussmethoden oder die Vor- und Nachteile von First oder Second Flush hören.
  • Eine Französin nennt ihr Blog „Wie Gott in Deutschland„. Überhaupt: Blogs haben Namen!
  • Niemand will wissen, was Blogger mit ihren Nudeln machen, wie lange sie ihren Tee ziehen lassen.
  • Blogger halten sich „für gebildeter als Siebeck, für witziger als Axel Hacke, für beseelter als Hape Kerkeling und für schlauer als Einstein“ dabei sind sie ungebildet, nicht witzig, katatonisch und dumm.
  • Manche Blogs sind kühl designt. Das geht gar nicht, da man so den Zwiebelgeruch nicht sehen kann. Andere Seiten sind „sehr hell, sehr licht“ oder aus Erlangen – das ist gleich viel besser.
  • Es gibt Anleitungen für Hackbällchen Toskana. Unmöglich. Wer wars?

Am Ende wird es dann doch noch ganz interessant, denn die Verkörperung des kulinarischen Wahnsinns müssten dann doch eigentlich Leute wie Harold McGee oder Thomas Vilgis zu sein, die sich mit grundlegenden Fragen der Küchenwissenschaft befassen:

Es wird nicht mehr lange dauern, bis im Netz „Tipps & Tricks“ dafür zu finden sind, wie man Milch in einem Topf erwärmt. Oder wie man Butter auf eine Scheibe Brot streicht. Oder eine Tasse Kaffee eingießt.

Ach, eigentlich sind wir nur enttäuscht, dass die Molekularküche in diesem Zusammenhang nicht erwähnt wurde. Schließlich ging es hier sogar schon darum, welches Wasser am besten schmeckt. So ein Filetstückchen darf man sich doch nicht entgehen lassen.

UPDATE: Weitere lesenswerte Reaktionen finden sich in den Notizen für Genießer („Bloggen bedeutet Kommunikation“), im maisonrant (wobei ich die Kritik der Selbstbezüglichkeit gerade in den Food- und Weinblogs nicht ganz teile, da hier doch mit dem Essen oder dem Wein meistens ein externer Referent gegeben ist; auch wenn man den Verlinkungsgrad dieser Community mit anderen vergleicht, ist es eher für Blogs ziemlich wenig selbstreferenziell), in den Gastgewerbe Gedankensplittern, wo Weblogs eher als Arno Schmidtsche Zettelkästen gesehen werden denn als fertige journalistische Erzeugnisse, sowie in den reisenotizen (deren Autorin sich nicht in die Goethezeit zurückwünscht, in der einen „unbescholtene Menschen auf offener Straße damit behelligt haben, wie man Nudeln zu machen und wie lange man den Tee ziehen zu lassen hat.“)