Kategorie-Archiv: chemie

Spiceporn: Sternanis

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Durch Heston Blumenthal habe die kulinarische Allzweckwaffe „Sternanis“ (früher bekannt unter dem Marathi-Namen „Badian“) schätzen gelernt, die sich zum Beispiel wundervoll dafür eignet, Umamikomponenten z.B. bei einem Fleischgericht, in den Vordergrund zu rücken. Auf den ersten Blick scheint der Name perfekt zu der Frucht zu passen, denn sie ist sternförmig und hat ein stark an Anis erinnerndes Aroma. Eine Tüte Sternanis zu öffnen ist für die Nase ein ebenso markantes Erlebnis wie das Öffnen einer Flasche Raki oder Ouzo (im Pastis wird Sternanis verwendet). Tatsächlich hat Sternanis (Illicium verum) aber nichts mit dem Namensvetter Anis (Pimpinella anisum) zu tun. Aber weil beide (wie auch Süßfenchel) die phenolische Substanz Anethol enthalten, ähneln sie sich geschmacklich und geruchlich. Allerdings ist Sternanis etwas intensiver, schärfer und lakritziger.

Auf diesem Foto sieht man deutlich die sechs bis acht Kammern des getrockneten weiblichen Fruchtstandes, in denen sich die Samen befinden – ein ästhetisch äußerst angenehmer Anblick, wie die hochglänzenden Samen hier nur ausschnitthaft zu sehen sind:

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Öffnet man einen Samen, dann sieht das wie folgt aus. Man erhält zwei harte, glänzende Schalen und das eigentliche Innenleben des Samens – die Keimanlagen:

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Ich habe einmal die einzelnen Bestandteile der Reihe nach probiert: das Sameninnere ist trocken und hat nur einen ganz leichten Anisgeschmack. Es dominiert eine bittere Note. Die Hüllen schmecken schon deutlich intensiver nach Sternanis. Besonders schön ist die chitinartig-knusprige Konsistenz. Die äußere Schale ist der stärkste Geschmacksträger, allerdings lässt sich dieser Teil nur schwer kauen. Deshalb wird üblicherweise die gesamte Frucht kleingemalen oder gemörsert.

Sternanis ist ein wichtiger Bestandteil der chinesischen Küche. In Verbindung mit Zwiebeln und Sojasauce entstehen schwefelphenolische Aromaverbindungen, die sich dafür eignen, die Fleischnote hervorzuheben. Sternanis ist also ein natürlicher Umamiverstärker. Aber die hauptsächliche Verwendung ist mittlerweile nicht mehr das klassische chinesische Fünf-Gewürze-Pulver oder die keralische Garam-Masala-Variante, sondern liegt in der Medizin: der größte Teil der Ernte dieser Frucht geht in die Fabriken von Roche, wo aus der attraktiven Frucht das Antigrippemittel Tamiflu hergestellt wird. Aber bereits früher wurde die Frucht auch medizinisch eingesetzt: etwa als Gegenmittel zu Säuglingskoliken. Auch gegen Rheuma wurde die Pflanze in China eingesetzt.

Wer sich mit diesem Gewürz einmal auseinandersetzen möchte, dem sei dieses Heston Blumenthalsche Rezept für Spaghetti bolognese empfohlen, in dem Sternanis eine wichtige Rolle spielt (die Zubereitung dauert allerdings etwa neun Stunden):

Caramelising onions with star anise produces vibrant flavour compounds that really enhance the meaty notes of the sauce

Kochen als entartete Kunst? Oder: Wir haben immer schon denaturiert

michelangelo.pngDie lebhafte Diskussion über die molekulare Küche (siehe hier, hier oder hier) ist aus unserer Sicht nicht besonders überraschend: Wenn es eine Konstante in der Geschichte des Kochens gibt, dann sind es Angriffe auf die kulinarische Avantgarde, auf die Popularisierung bestimmter Techniken und Zutaten, die zuvor einer kleinen Elite vorenthalten waren („wenn eine küchenmode zum massenphänomen verallgemeinert wird, scheint auf dem weg in die breite einfach das notwendige wissen und können verloren zu gehen“ kommentiert reibeisen) sowie die Abwehr von neu erreichten Reflexionsstufen über das Kochen. Das war zum Beispiel der Fall bei der Einübung des Essens mit Messer und Gabel, bei dem trickle down dieser Kulturtechnik sowie der wissenschaftlichen Reflexion über dieses neue Phänomen. Insofern liegt diese Debatte völlig im Trend.

Nur: den Begriff der „Denaturierung“ in diesem Kontext zu bemühen (so kommentiert Franz: „Leute, die Praktiken wie “Denaturierung” im Zusammenhang mit Nahrungsherstellung für legitim halten, können nicht kompetent sein, wenn es um Lebensmittel geht“), ist entweder unsinnig oder überflüssig.

Zunächst zum Unsinn. „Denaturierung“ ergibt in der Anwendung auf die Kochkunst keinen Sinn, da es keine natürliche Kochweise gibt, die „denaturiert“ werden könnte. Sieht man sich im Reich der Tiere oder Pflanzen um, so wird man sich sehr schwer dabei tun, Beispiele für eine natürliche Kochweise zu finden. Hier wird fleißig geschluckt oder Osmose betrieben, ohne dass sich die Akteure dabei die Mühe machen, ihre Nahrung vorher zu kochen.

Insofern ist Kochen eine Kulturtechnik und sogar eine der ältesten, wie wir immer wieder betont haben. Damit leider auch das genaue Gegenteil von Natur – wenn man diese Unterscheidung überhaupt aufrecht erhalten möchte. Kochen gehört in den großen Aktivitätskomplex des „Spiels gegen die Natur“ und macht den Menschen zu einem Kulturwesen, das sich Natur aneignet (um nicht zu sagen: Untertan macht). Im Übrigen liegt die Wurzel des Begriffs „Kultur“ im Ackerbau – also ebenfalls einer Technik, die sehr eng mit der Nahrungsproduktion und -aufnahme verbunden ist.

Dazu kommt, dass der Begriff „Denaturierung“ an die unsägliche Naziformel von der „Entartung“ erinnert – an die wissenschaftlich klingende Abwehr dessen, was dem eigenen Geschmack nicht entspricht. Beruhigend ist jedoch, dass in der jüngsten Debatte keine „nationale Küche“ oder „Volksküche“ als Gegenbild zur „denaturierten“ Molekularküche heraufbeschworen wird, sondern vielmehr eine nostalgisch verklärte „einfache Küche“ („back to the roots“). Allerdings spielt(e) diese Bedeutungsschicht auch im Begriff der „Entartung“ eine Rolle, so dass hier etwas mehr Fingerspitzengefühl angesagt wäre.

Nun zur Denaturierung als überflüssigen Begriff (siehe dazu auch die gewohnt entspannte Replik des Kompottsurfers). Kochen ist Denaturierung. Zumindest, wenn man von der heute üblichen Hauptbedeutung des Wortes ausgeht, die das Zerstören der Proteinfaltung durch Hitze, Säure, Luftblasen etc. und die sich daraus ergebende Koagulation beschreibt. Denaturierung findet also immer dann statt, wenn man etwas Zitronensaft auf ein frisches Lachsfilet träufelt, wenn man ein Ei in Essigwasser pochiert oder sich ein saftiges Kotelett brät. Konsens dürfte jedoch sein, dass zuviel Denaturierung dieser Art nicht besonders wohlschmeckend ist. Brät man sein Kotelett zu lange, so verknäulen sich die Proteine so stark, dass sie das Wasser aus den von ihnen zuvor gebildeten „Taschen“ herauspressen und man denaturiert das saftige Kotelett zu einem trockenen Stück Leder.

Wenn man von dieser wissenschaftlichen Wortbedeutung ausgeht, so werden wir hier einfach gelassen darauf warten, dass die Denaturierungsgegner endlich konsequent werden und Fisch, Fleisch und Eier roh verzehren – und die Denaturierung ihrer Magensäure überlassen.

Bleibt noch die Frage, was das alles mit der molekularen Küche zu tun hat. Nicht viel – aber das gilt für die gesamte Diskussion bisher.

Die Chemie der Schokolade

Vorbildlich finden wir die Aktion der American Chemical Society, ein informatives Webangebot zum Thema „Chemie der Schokolade“ bereitzustellen. Dort kann man sich zum Beispiel über die Geschichte der Brownies informieren (einschließlich einer Rezeptsynopse), über verschiedene Schokoladensorten und Temperatureinflüsse oder eben – und hier werden die Molekularköche hellhörig – über die Chemie des Schokoladengeschmacks. Zu diesem Punkt kann man sich ein Handout von Harold McGee herunterladen, das vermutlich nur wenige Punkte des Vortrags auf dem ACS-Schokoladenworkshop „Cooks with Chemistry – The Elements of Chocolate“ illustrieren soll, aber ein wunderschönes Schokoladengeschmacksrad (nach Alice Meldrich 1997) enthält:

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Wer es noch wissenschaftlicher mag und sich etwa über den Procyanidin- und Catechingehalt informieren will, kann hier dann auch noch die Abstracts von aktuellen Papieren zur akademischen Schokoladeforschung durchlesen. Wir hoffen, dass diese Seite weiter ausgebaut und vor allem regelmäßig gepflegt wird.

Die Molekülchen-Küche von Thomas Vilgis

Kinder lieben chemische Experimente. Und Kinder kochen gerne – und werden uns Eltern genau durch diese Kombination regelmäßig am Herd äußerst lästig. Die „Hexenküche„, Urform des chemischen Labors ist wahrscheinlich für jeden an Chemie Interessierten der Ort der ersten Auseinandersetzung mit den Stoffen und Gesetzen der Materie gewesen.

Was liegt also näher, als Kochen und Experimentieren direkt zu verbinden?
Thomas Vilgis liefert in seiner Molekülchen-Küche (S. Hirzel) ein Buch dass viel mehr bietet, als die naturwissenschaftlichen Grundlagen des Kochens kindgerecht zu servieren.
Schon der Einstieg ins Buch erinnert nicht an ein Chemiebuch, sondern an die Geschmacksschule von Jürgen Dollase: wir werden angeleitet, den Geschmack eines Hamburgers Stück für Stück in Mund und Nase zu analysieren und sind in weniger als einer Buchseite mitten drin in den elementaren Fragen: Wie entsteht Aroma? Wie wird Brot knusprig? Warum fällt das Hackfleisch nicht auseinander?

Obwohl der Text einfach zu lesen ist, wird selbst ein naturwissenschaftlich gebildeter und interessierter Leser an keiner Stelle unterfordert. Die Rezepte sind nicht die üblichen „Kindergerichte“, trotzdem klar aufgebaut und laden zum Nachkochen ein. Dass der Text den aktuellen Stand der Forschung wiedergibt, ist leider nicht nur für Kinderbücher alles andere als selbstverständlich. Bei Vilgis finden wir endlich ein Buch, dass auch Umami und Fett als Geschmäcker unserer Zunge anführt.

Ein besonders schönes Beispiel einer chemischen Küchenzauberei ist der grüne Mooskuchen – ein Schoko-Rührkuchen mit Eischnee als Guss, der durch eine Prise Kaffeepulver grün wird (und dabei in die Welt der Proteine einführt …)!

Weitere Bücher von Thomas Vilgis zum Thema:

Die Molekül-Küche. Physik und Chemie des feinen Geschmacks (s. auch unsere Besprechung)
Die Molekularküche

Thomas Vilgis: Die Molekülchen-Küche, Stuttgart, Hirzel, 2007, 168 Seiten, ISBN 3777615358, 19,80 EUR.

Molekulare Gels aus der Steckdose

Bloggers for Peer-Reviewed Research ReportingEine der wichtigsten Verbindungen zwischen der modernen Lebensmittelchemie und der auf wissenschaftlichen Grundlagen aufbauenden Molekulargastronomie ist die Hydrokolloidforschung. Im Mittelpunkt stehen dabei die unterschiedlichen Eigenschaften (Viskosizität, Elastizität, Mundgefühl etc.) von Hydrokolloidgels auf Alginat-, Agar-, Agarose– und Gellanbasis. Abhängig von der Konzentration, dem pH-Wert oder der Temperatur lassen sich mit diesen Stoffen eine große Bandbreite von Texturen herstellen, die zu Grundelementen der Nueva Nouvelle Cousine geworden sind.

nussinovitch.pngDie beiden israelischen Forscher Amos Nussinovitch (Autor des Standardwerks „Hydrocolloid Applications„) und Zvitov-Marabi (Hebrew University of Jerusalem) widmen sich u.a. auch in ihrem aktuellen Aufsatz „Unique shape, surface and porosity of dried electrified alginate gels“ in der aktuellen Ausgabe (Mai 2008) von Food Hydrocolloids einer weiteren Variable: der Elektrifizierung von natürlichen Gels. Denn die Gels der molekularen Küche können auch durch elektrische Spannung dazu gebracht werden, ihre Form und Porosität sowie mechanische und chemische Eigenschaften zu verändern. Die Forscher sind der Ansicht, dass insbesondere die höhere Porosität der elektrifizierten und anschließend gefriergetrockneten (-50°C bei 1,1 Pa Druck) Gels neue Anwendungsmöglichkeiten erschließen könnten:

The freeze-dried hydrocolloid gels could also be useful as carriers for many food snacks, non-food matrices and biotechnological operations.

Die elektrische Spannung, die benutzt werden kann, um die Gels in destilliertem Wasser zu manipulieren, muss dabei gar nicht hoch sein: schon bei 40 Volt verändert sich die Struktur der Substanz. Alginatperlen lassen sich stärker von elektrischen Feldern beeinflussen als Agarperlen. Durch die vielen und wesentlich größeren Poren sind die elektrifizierten Gele auch weniger spröde – was möglicherweise auch ein anderes Mundgefühl mit sich bringen könnte. Besonders eindrucksvoll und überraschend waren die Veränderungen von aufgeschnittenen Alginatschwämmchen an der Kathode: dort waren statt der üblichen Poren <0.25mm2 große Poren bis zu 2.5mm2 zu beobachten. Die Querschnitt-Aufnahmen der Gelkügelchen mit dem Elektronenmikroskop zeigen dabei eindrucksvoll die Strukturveränderung von einer gleichförmigen Bläschentextur hin zu einem konzentrisch-rosenförmigen Erscheinungsbild. Die Ursache ist noch nicht vollständig geklärt, wobei pH-Wert, Überschussionen, Geltyp als wichtige Einflussvariablen gelten.

Die Molekularköche fragen sich jetzt natürlich: haben Alginatschwämmchen von der Kathodenseite ein anderes mouth feel als gewöhnliche Alginatperlen? Sowie natürlich: Wann werden Platinelektroden endlich in die molekulare Gastronomie integriert?

A. Nussinovitch/Zvitov-Marabi (2008): Unique shape, surface and porosity of dried electrified alginate gels. In: Food Hydrocolloids 22: 364-372.

Fruchtsaft Kaviar:ein Erfahrungsbericht mit Natriumalginat

Kaviarkügelchen aus Fruchtsäften gehören mit zum Bekanntesten, was die Molekulare Küche hervorbringt.

Zum einen sieht dieser Fruchtkaviar sehr hübsch aus, zum anderen ist schon eine gewisse technische Verfeinerung am Werk – nicht bloß schnöde Gelatine sondern regelrechte Reagenzien in zwei Phasen. Saure Lösung von Natriumalginat geliert in basischer Umgebung und bildet die beliebte Spherifikation.

Leider verarbeitet sich Alginat ausgesprochen widerwillig. Zunächst löst es sich nicht gut,sondern bildet schleimige Klümpchen. Dann die richtige Konzentration zu finden, bei unbekanntem ph-Wert des Fruchtsafts etc. etc.

Nach mehreren Stunden gemeinsamen Werkens konnten die Molekularkuechen-Blogger tatsächlich passablen Kaviar aus zitronensaurem Traubensaft im Calciumchlorid-Bad erzeugen. Das Ergebnis war aber enttäuschend.

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Als Kombi-Produkt mit Fenchelkraut oder wahlweise einer Mandarine (oberflächlich ähnliche Textur, ganz anderes Gefühl beim Platzen der Kügelchen) war unser Kaviar ganz OK.

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Rezept:

    Ca. 150 ml Fruchtsaft (in in userem Fall Traubensaft) gegebenenfalls mit etwas Zitrone säuern.
    Löffelspitze Natriumalginat darin lösen. Lösung durch ein feines Sieb streichen. Der Saft muss eine leicht ölige Konsistenz bekommen.
    1/4 Teelöffel Calciumchlorid in ca. 150 ml Wasser lösen.
    Großlumige Spritze mit der Lösung aufziehen.
    Tropfen des Alginatsafts in die Calciumchloridlösung fallen lassen.
    Dabei mit der Spritze nahe des Flüssigkeitsspiegels bleiben, damit die Tropfen sich beim auftreffen auf die Oberfläche nicht verformen.
    Nach 2-3 Minuten die festen Gelkügelchen mit einem Löffel aus der Lösung fischen.

Roh, gekocht, gebraten


In seiner Betrachtung der Küche kommt Claude Levi-Strauss zu einem „kulinarischen Dreieck“, in dessen Ecken die extremen Zubereitungsformen roh, gekocht und gebraten stehen (bei CLS kommt allerdings als Drittes das Verfaulte – darüber sollten wir auch noch sprechen! – mein Dreiklang stammt aus der Interpretation von Slavoy Žižek).

Das Gebratene – dem Feuer am nächsten – geht am verschwenderischsten mit den Nährstoffen der Speisen um, so Levi-Strauss. Daher sei es sozial höheren Schichten zuzuordnen, als das Gekochte. / Diese Ansicht teilt er übrigens mit Brillat-Savarin, der schon genau hundertfünfzig Jahre zuvor festegestellt hatte, dass man zum Koche ausgebildet werden kann, „zum Bratkünstler aber ist man geboren“ …/

Ist denn das Braten wirklich so verschwenderisch, nur weil aus dem Bratgut die Säfte heraustreten? In einem aktuellen Artikel beschäftigt sich das Journal of Agricultural and Food Chemistry mit dieser Frage, inwieweit unterschiedliche Gartechniken die Nähreigenschaften beeinflussen.

Das Ergebnis: gebratenes Gemüse ist gesünder als rohes. Je nach Gemüsesorte liegt Konzentration der Antioxidantien um bis zu 30% über den Werten für die rohen Speisen.

30 Weihnachtstipps von Heston Blumenthal

garrett-buffet.jpgWeihnachtszeit ist Rezeptezeit. Und da gilt es zu beweisen, dass die molekulare Küche zu mehr taugt als zu sternedekorierten Degustationsmenüs in 25 Gängen. Die Frage lautet jetzt: Was leistet die molekulare Küche bei feiertagspraktischen Problemen mit Gans, Ente und Kartoffeln. So stellten die Leser des Independent am vergangenen Freitag Heston Blumenthal zur Rede und fragten unter anderem danach,

  • ob Gänseschmalz tatsächlich das Nonplusultra für Bratkartoffeln sei
    (Antwort: Nicht unbedingt, denn zu knusprigeren Resultaten führt Olivenöl, in dem zuvor des Geschmacks wegen ein paar Kartoffelschalen bei niedriger Temperatur mehrere Stunden gegart wurden)

  • welches Küchenspielzeug man sich dieses Jahr wünschen solle
    (Antwort: Trockeneis)

  • wie man den Truthahn perfekt goldbraun und saftig hinbekomme
    (Antwort: Sehr lange bei niedrigeren Temperaturen, etwa 60°C, garen und dann kurz bei 250°C bräunen, siehe dazu auch unsere Experimente mit der sous-vide-Garmethode)

  • welche Musik man zum Weihnachtsessen hören sollte
    (Antwort: frühen Äthiopischen Avantgardejazz oder Dr Rubberfunk)

  • wie man mit wenig Geld ein tolles Weihnachtsmenü anbieten kann
    (Antwort: Mehr Kartoffeln als üblich, vielleicht eine Schweineschulter anstelle des Truthahns)

  • wie man ohne Stress durch die Feiertage kommt
    (Antwort: Das Geschenkekaufen an die Frau delegieren)

  • welches Kochbuch man sich wünschen sollte
    (Antwort: Theodore Francis Garretts „Encyclopaedia of Practical Cookery, Band I und II„, in der unter anderem ein 170-Gänge-Menu von König George en detail beschrieben wird)

Alles weitere gibt es in dem Zeitungsartikel zu lesen. Und wem das noch nicht genug Blumenthal-Weihnachten ist, der kann auch noch die folgenden Artikel mitnehmen:

(Abbildung: Tischdekoration aus dem oben erwähnten Werk „The Encyclopaedia of Practical Cookery“, vielen Dank an Historic Food für das Bild)

Chocolat coulant

chocolate.pngSchokolade und Blauschimmelkäse? Nicht unbedingt die Paarung, an die man auf Anhieb denkt, wenn es gilt eine leckere Nachspeise zu backen. Aber die aromentheoretische Verbindung, die Foodpairing anzeigt, lässt sich mit Heston Blumenthals (bzw. ursprünglich Michael Bras) „Chocolat coulant“-Rezept (siehe auch hier eine käselose Variante) überprüfen:

Auf dieser Seite der Royal Society of Chemistry gibt es noch weitere schöne Videos aus Blumenthals molekularer Küche. Dabei bietet es sich an, gleich noch nebenan ein bisschen Küchentheorie durchzuarbeiten. Vielleicht will die Gesellschaft deutscher Chemiker ja auch einmal mit einem derart ansprechenden küchenchemischen Angebot nachziehen?

"Die Molekül-Küche" von Thomas Vilgis

Die Molekül-KücheDie Maßstäbe, mit denen die „Die Molekül-Küche“ (S. Hirzel) von Thomas Vilgis zu messen ist, dürften klar sein: Wer ein Buch schreibt, das versucht, küchenwissenschaftliche Aufklärung mit Geschmack und Genuss zu verbinden, tritt in die mächtigen Fußstapfen von Hervé This. Dieser hat in seinen beiden Grundlagenwerken zur molekularen Gastronomie zum einen Chemie und Physik von Saucen, Emulsionen und Garmethoden überaus anschaulich dargestellt und anschließend ausgewählte molekulare Kochrezepte vor diesem Hintergrund präsentiert.

Genauso geht auch der theoretische Physiker Thomas Vilgis vom Max-Planck-Institut für Polymerforschung vor, dessen Molekül-Küche nunmehr in der sechsten Auflage vorliegt. In dem Buch behandelt Vilgis die Chemie und Physik von Farbstoffen, Aromastoffen, Temperaturen, Garvorgängen, Zubereitungsmethoden, Saucen, Pökeln, Marinaden, Kristalle, Emulsionen, Hydrokolloide, Schäume, Milchprodukte, Teige, Kaffee und Schokolade. Dabei werden die theoretisch erklärenden Abschnitte – unter dem Titel „Genetische Sommertränen“ geht es zum Beispiel um Propanthial-S-Oxid, Thiosulphat und LF-Synthase oder etwas verständlicher: die Biochemie des Tränenflusses beim Zwiebelschälen – immer wieder mit kurzen Rezeptenvorschlägen unterbrochen: von parmesanisiertem Spinat über Marsaillaiser Bouillabaisse à la Lotte flotte bis hin zum bereits in unserem Blog erfolgreich nachgekochten indischen Paneer.

Nach über 200 Seiten anschaulicher und wundervoll zu lesender Genießerprosa auf hohem wissenschaftlichem Niveau steht als Resümee fest: Der Vilgis sollte nicht nur einen Stammplatz in jedem molekulargastronomischen Bücherfach erhalten, sondern schafft sogar das Kunststück, den Thies in einigen Punkten zu übertreffen. In der wissenschaftlichen Erklärungstiefe, der systematischen Darstellung der Küchenchemie und vor allem in der sehr bodenständigen Art der Wissensvermittlung, die selten dozierend auftritt, sondern den Leser (und Experimentator) immer wieder dazu anregt, sich auf das eigene Augenmaß zu verlassen und die dargestellten Inhalte selbst zu begreifen und zu erschmecken.

Thomas Vilgis: Die Molekül-Küche. Physik und Chemie des feinen Geschmacks, Stuttgart, S. Hirzel Verlag, 2006, ISBN 9783777613703, 19,80 EUR.