Big Food Data – Die nächste Revolution in der Küche

Irgendwie folgerichtig, dass Ferran Adrià sich nach dem sehr wissenschaftlichen molekularen El-Bulli-Ansatz jetzt dem Thema Big Data zuwendet. TechFoodMag hat den spanischen Koch in zwei sehenswerten Videos dazu interviewt. Darin resümiert er die letzten beiden Revolutionen der Küche: die Mikrowelle der 1970er Jahre sowie dann  die Kaffee-Vollautomaten der 1990er Jahre, mit denen man sich auch zuhause einen Espresso zubereiten kann, der so schmeckt wie in einer italienischen Strandbar. Aber das war es dann auch mit den technologischen Revolutionen in der Küche.

Alle Branchen werden derzeit von disruptiven Innovationen und Geschäftsmodellen durcheinander gewirbelt: vom Taxifahren (Uber, Lyft) zur Raumfahrt (SpaceX, BlueOrigin), vom Shopping (Amazon, eBay) bis zum Musikhören (Spotify, Apple Music). Auch die Gastronomie hat sich schon längst verändert – der Restaurantbesuch endet nicht mit dem Bezahlen der Rechnung, sondern mit dem Blogpost über das Menü sowie den Kommentaren der Facebookfreunde oder den Instagram-Herzchen über dem Pastafoto. Food ist längst zu einem sozialen Medium geworden.

Nur die Küche selbst scheinen fünfzehn Jahre Molekularküche – und damit verbunden das Messen, Erforschen und Experimentieren mit Textur und Aroma – ohne tiefere Spuren vorbeigezogen. Weder findet man Agar-Agar, Kalziumlactat, Natriumalginat und Sojalecithin in jeder gutsortierten Küche neben Brühwürfel und getrockneten Porcini, noch gehört zum Vorbereiten des Sonntagsbratens das sorgfältige Anbringen und Kalibrieren der Sensoren, die dann die Messpunkte auf einen Amazon-Cloud-Server laden, wo sie analysiert, verglichen und automatisiert auf Anomalien untersucht werden.

Ja, nicht einmal die Temperaturmessung hat es jenseits der Niedertemperaturfangemeinde wirklich in den Küchenalltag geschafft. Der Alltag besteht hier nach wie vor aus Ofen auf 200°C vorheizen oder „mittlerer Hitze“. Sensoren sind mittlerweile für nahezu jedes physikalisches Phänomen erhältlich und lassen sich mit Mini-Computern so einfach erfassen und auswerten, dass das Internet-of-Things in Großbritannien mittlerweile schon zum Schulfach geworden ist. Daher: Arduinos und Raspberry Pis nicht nur in die Klassenzimmer, sondern in die Küchen! Die nächste Revolution liegt um die Ecke: Big Food Data ist nur eine Frage der Zeit.

Cervelle de Canut

Der Aufstand der Seidenweber von Lyon 1830 gilt als die erste gewaltsame Erhebung des Industriezeitalters und markiert einen Wendepunkt in der europäischen Sozialgeschichte. Mit der Revolution von 1830 setzt sich das liberale Bürgertum endgültig gegen die letzten Reste der Aristokratie durch und als die neue, herrschende Klasse von den Proletariern ab. Die Weber, die bisher als selbständige Handwerker Eigentümer ihrer Webstühle waren, verloren ihr spärliches Einkommen an die dampfbetriebenen Textilfabriken. Lyon, seit dem Mittelalter das Zentrum der Seidenproduktion, drohte zu verarmen. Der Aufstand der Weber wird mit militärischer Gewalt brutal niedergeschlagen. Der „Klassenkampf“ hat begonnen.

Auf französisch heißen die lyonnaiser Seidenweber „Les Canuts“. Die Herkunft dieses Namens ist unklar. Zwar ist Canut die französische Form des skandinavischen Knut, es erscheint aber wenig logisch, warum die Weber in Lyon „die Knuts“ genannt worden sein sollten. Wahrscheinlicher ist die Ableitung von Canette, die Spindel.

cervelle_de_canut1Es mag sein, dass es die Verachtung reicher lyonnaiser Bürger war, ihren aufgeschlagenen Frischkäse oder Quark Cervelle de Canut zu nennen, Seidenweberhirn. Paul Lacombe, Chéf und Gründer der bekannten Brasserie Léon de Lyon, von dem das Rezept 1934 erstmalig niedergeschrieben wurde, dürfte allerdings so eine negative Assoziation kaum noch gehegt haben. Manche Fans seiner Küche unterstellen ihm sogar eher, dem Weberaufstand ein kulinarisches Denkmal gesetzt zu haben. Wir haben an anderer Stelle diese Form des symbolischen Kanibalismus bereits beschrieben. Der gruselige Name könnte sich aber auch einfach von der Optik herleiten: Lamm-Hirn war ein typisches Festessen armer Leute in Frankreich und der weißlich-gelbe Klumpen Käse mag daran erinnern.

Wie dem auch sei – Cervelle de Canut gehört zu den ganz großartigen und einfachen Rezepten der lyonnaiser Küche:

Rezept

  • Frischkäse (am besten fetter, milder Ziegenkäse; nicht so gut geeignet für dieses Rezept ist grichischer Feta)
  • Creme Fraiche – kann man aber weglassen, wenn der Käse fett genug ist oder einfach etwas mehr Olivenöl nehmen.
  • Kräuter (in Lacombes Original-Rezept Kerbel, Schnittlauch und Petersilie, sehr gut passt auch Estragon oder Thymian)
  • Schalotten
  • Olivenöl
  • Weißweinessig
  • Salz, Pfeffer

Den Käse zusammen mit dem Öl, dem Essig, Kräutern, Salz und Pfeffer mit einer Gabel aufschlagen. Immer ein wenig Öl und Essig zugeben, bis der Käse die gewünschte Cremigkeit erreicht hat. Zum Schluss die feingehackten Schalotten unterrühren.

Der Essig lässt ganz andere Aromen des Käse hervortreten und erlaubt, zusammen mit dem Öl, alle Geschmacksstoffe der Kräuter zu entfalten – seinen sie polar oder fettlöslich.

Im Winter kann man das Cervelle de Canut auch mit Trüffelöl statt Kräutern zubereiten.

Neben einem Meursault schmeckt auch eine Maracuja sehr gut zu diesem Brotaufstrich.
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Marmite

„Love it, or hate it.“

marmite1Die englische ist für uns Continentals sicher die exotischste unter den abendländischen Küchen. Und nichts ist uns an Leberwurstbrot und Marmeladesemmel gewöhnten Deutschen so fremd, wie die englische Frühstückskultur. Jedenfalls ist das meine Erfahrung. Dabei hat mir seit Kindheit an das Klischee des Engländers überaus imponiert, das sich in meinem Kopf aus Romanen wie In 80 Tagen um die Welt oder Der geheime Garten oder Filmen wie Adel verpflichtet oder Die Brücke am Kwai entwickelte.

Das viktorianische und post-viktorianische Königreich hatte in seiner in splendid Isolation tatächlich vieles entwickeln können, was mir die Stereotype des Britischen bei meinen regelmäßigen Aufenthalten in England eher bestätigen als ausräumen konnte. Fremd und gleichzeitig faszinierend.

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Eine der eigentümlichsten kulinarischen Erfahrungen am Frühstücksbuffet in England ist Marmite.

Marmite ist ein Hefeextrakt. Es wird aus der Hefe gewonnen, die sich beim Bierbrauen als sogenanntes Geläge sammelt. In Wasser gelöst, wird die Hefe gesalzen und solange gekocht, bis die Zellen der Pilze ganz aufgelöst und zu einem zähen, dunkelbraunen Sirup eingekocht sind. Die stark wie Brühwürfel schmeckende Paste wird dünn auf Buttertoast gestrichen.

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Das Hefeextrakt enthält sehr viel Glutaminsäure und andere Aminosäuren. Daraus erhält Marmite seinen Geschmack: reinstes Umami. Vor Erfindung der des Hefeextrakt gab es in Europa so gut wie ausschließlich Umami-Würzen tierischen Ursprungs: das Garum der Römer, die Bouillon, Demi Glace oder das Extrait de viande, das in der von Justus von Liebig industriell hergestellt Form eines der ersten Fertiggerichte überhaupt war. Schlecht für Vegetarier, deren Bewegung im Jugendstil mit der Reformernährung Ende des 19. Jahrhunderts besonders in Groß Britannien viele Anhänger fand.

Dabei war es ausgerechnet Justus von Liebig, den sein Fleischextrakt reich gemacht hatte, bereits entdeckt, der entdeckte, dass die in der Fleischbrühe enthaltene Glutensäure und das Inosinphosphat auch in der Brauerhefe zu finden sind, die daher ebenfalls den typisch herzhaften Geschmack nach Fleisch zeigt. Dass es sich dabei tatsächlich um einen Geschmack handelt, der auf der Zunge wahrgenommen wird und nicht um ein Aroma, das mit der Nase aufgenommen wird, war Liebig noch nicht bekannt. Auch wenn es große Gourmets wie Brillat-Savarin oder Escoffier vermutet hatte – die Umami-Rezeptoren auf der Zunge wurden erst 1908 von Kikunae Ikeda entdeckt.

Marmite ist Französisch und bezeichnet einen bauchigen Metall- oder Steinzeugtopf mit Deckel. Ein solcher Topf – symbolisch für das Einkochen der Hefe – ist auch seit 1902 auf dem Logo der Marmite Food Company zu sehen.

Im Englischen ist eine Marmite seit dem 19. Jahrhundert vor allem in der Soldatensprache konnotiert: „A pot-shaped bomb (or, loosly, shell)“, und auch im Französischen hat Marmite einige interessante Nebenbedeutungen. Als Adjektiv heißt es heuchlerisch, scheinheilig, weil der Topf tief und mit einem Deckel verschlossen ist und daher oft weniger leckere Speisen enthielt, als er von Außen versprochen hatte; für einen „Geschmacksverstärker“, der vor allem im ersten Weltkrieg ein billiges Surrogat für Beef Tea an die Front geliefert wird, nicht unpassend! (Noch heftiger im Argot, wo Marmite für eine Prostituierte steht). „faire bouillir la marmite“ bedeutet allerdings schon viel versöhnlicher „das Brot für die Familie verdienen“.

»Wenn ’n Freier (n Bewerber) ins Haus kommt, und man schlägt ihm Eier in’n SchwanzTiegel: dann iss er angenomm’m!; (Pfannkuchn dagegn bedeutet Ablehnung). Auf’m Land koch’n se noch viel: die schmor’n und mischotiern d’n ganzn Tag. Da giebt’s SauerMus und Rauchfleisch; und Öff alla Kock, mi’m Stämmche Petersilj’; ’ne Marmite mit Supp aus Kerb’l und Sauerampfer; Schufflör mit Quendl Kresse und Basilikum – die übrijens vom Fluch’n gedeihen,«;
Arno Schmidt, Abend mit Goldrand

Schon 1907 wurde Marmite von seinem schärfsten Konkurrenten Bovril übernommen, der seit 1990 zum Unilever-Konzern gehört. Bovril ist ein typisches Fleischextrakt und war zur Versorgung von Seeleuten entwickelt worden. Der Name war eine Anspielung auf die Vril, Außerirdische aus dem Science Fiction „The Coming Race“ von Edward Bulwer-Lytton, in dem dieser eine, den Menschen weit überlegene Herrenrasse schildert. Die Assoziation Vril/Bovril ist also ein typischer Werbegag von vor hundert Jahren.

„What is the vril?“ I asked. „I have long held an opinion,“ says that illustrious experimentalist, „[…] I believe, that the various forms under which the forces of matter are made manifest, have one common origin; or, in other words, are so directly related and mutually dependent that they are convertible, as it were into one another, and possess equivalents of power in their action. These subterranean philosophers assert that by one operation of vril, which Faraday would perhaps call ‚atmospheric magnetism,‘ they can influence the variations of temperature—in plain words, the weather; that by operations, akin to those ascribed to mesmerism, electro-biology, odic force, &c., but applied scientifically, through vril conductors, they can exercise influence over minds, and bodies animal and vegetable, to an extent not surpassed in the romances of our mystics. To all such agencies they give the common name of vril.“
Bulwer, The Coming Race

In Deutschland hat sich Marmite nie durchgesetzt – weder als Frühstückszutat, noch zum Suppenwürzen. Hier dominiert Maggi, dem wie kein Anderer Arno Schmidt, der über sich selbst sagt „Kann Maggi blank trinken.“ zahlreiche literarische Denkmäler gesetzt hat, vor allem in seiner „Schule der Atheisten“:

»Heil dem Erfinder des MAGGI. Wo er begrabm liege: HEIL IHM! –«; (und die Hand zu Schweighäuser: ›Wo?‹ – ; (unterm Atem: ›Dér? –: hätt’n NOBEL=Preis verdient gehabt!‹)).

Maggi1

Wohliger Wolfsbarsch

»Daunischer Seebarsch besucht den Mund des Enganeus Timavus,
Wo mit dem Salze des Meers süßes Wasser er schlürft« (Martius)

Wolfsbarsch

Es überrascht wohl kaum, dass nach Plinius der beste Wolfsbarsch dort zu Hause ist, wo wenige Generationen zuvor Romulus und Remus an den Zitzen der kapitolinischen Wölfin saugten. Leider war in München kein römischer Loup de Mer aufzutreiben, auch die daunigen oder wolligen Wolfsbarsche aus Triest, von denen Martial so schwärmte, gab es auf die Schnelle nicht.

Man sagt, der Lupus hätte eine heimliche Vorliebe für Unrat, den er mit offenem Mund durch das Wasser gleitend verspeise und in festkochendes, saftiges, wenn auch bisweilen etwas muffiges Muskelgewebe verwandelt. Vermutlich ist es schon in der Antike ein gutes Mittel gegen den allzu heftigen Haut-goût des Kanalbarsches gewesen, ihn mit ordentlich Thymian und Rosmarin zu würzen und zu kochen. Thymol wirkt zwar äußerst stark antibakteriell, ist aber geschmacklich trotzdem noch zurückhaltend, so dass damit der Fisch nicht kaputtgewürzt wird. Und außerdem: Dieser Fisch hält’s aus. Dieser Daunenfisch kommt aus griechischer Aquakultur.

Für den historischen Koch wäre das aber auch kein Problem. Schon in der Antike hielt man den Wolfsbarsch in Zuchtbecken in Flussmündungen, denn der Hunger Roms nach Fisch war grenzenlos. Plinius jammerte schon darüber, dass Fisch auf dem Markt bereits teuer gehandelt werde als die dafür notwendigen Köche. Im Falle von Ferran Adrià, von dem dieses einfache und klassische Rezept kommt (aus seinem sehr geerdeten Werk Familienessen), wäre ich mir da aber nicht sicher. Sehr viel Koch braucht man für dieses herrliche Abendessen aber auch nicht. Wie die besten Gerichte der Kulturgeschichte, kocht es sich von selbst.

Loup de Mer in der Pfanne

Zutaten:

  • Loup de Mer, ca. einen pro Person
  • 2 Kartoffeln pro Person
  • 2 Tomaten pro Person
  • 1 Zwiebel pro Person
  • Je nach Geschmack 1-2 Knoblauchzehen pro Person
  • Gewürze: Rosmarin, Thymian, Salz, Pfeffer
  • Olivenöl

Zubereitung:

  1. Die Fische entschuppen oder auch nicht. Je nachdem, ob man die Haut mitessen möchte oder nicht. Innereien entfernen und Flossen unten, oben, hinten und an der Seite mit der Schere abschneiden.
  2. Die Fische auf jeder Seite dreimal tief einschneiden und innen wie außen salzen und pfeffern.
  3. Kartoffeln und Tomaten in maximal 1cm dicke Scheiben schneiden. Die Zwiebeln feiner schneiden. Den Knoblauch mit Schale zerdrücken.
  4. Backofen auf 180°C vorheizen.
  5. In ein geeignetes Gefäß (z.B. eine Gusseisenpfanne) mit der Hälfte des Gemüses eine Schicht Kartoffeln, eine Schicht Tomaten und eine Schicht Zwiebeln auslegen. Würzen und ölen. Dann mit dem Rest die zweite Schicht legen. Erneut würzen, ölen und den Knoblauch dazugeben. Die Pfanne mit Alufolie abdecken und für ca. 30 Minuten in den Ofen.
  6. Danach den Backofen etwas heißer stellen, die Alufolie entfernen und die Fische auf das Gemüsebett legen. Jetzt noch gute 10 Minuten garen, bis der Fisch gar ist. Noch einmal ein bisschen Rosmarin und Thymian darüberstreuen (insbesondere, wenn es ein Lupus aus dem Tiber ist) und servieren.

Loup de Mer mit Gemüse

Sauerbraten

„Ich dachte nicht dass Sie mir entgehen könnten, drum kam ich halb achte wieder wie die Tauben zum gewohnten Futter. In Ihrer Abwesenheit lass ich mir doch etwas Sauerbraten hohlen, und geb Ihnen dagegen eine gute Nacht. Adieu. Grüsen Sie Steinen.“

d. 25. May 1780. G.
(Goethe an Charlotte vom Stein)

Nach einer Pause von fast vier Jahren haben wir zum Jahreswechsel einen Vorsatz gefasst: wir fangen wieder an, über das Kochen zu bloggen. Was liegt näher, als eines der ganz alten Rezepte molekularer Küche zu beschreiben: den Sauerbraten.

Fleisch sauer einzulegen hat mehrere Vorteile: zähes Fleisch wird zart – die Säure denaturiert das Eiweis, man könnte das als eine Art Vorverdauen bezeichnen. Zum zweiten halten sich Pickles länger. Kein Wunder, dass Säure vor allem in Gegenden, fern vom Meer, wo das Salz teuer war, als Konservierungsmittel eingesetzt wurde. (Über den notorischen Surströmming aus Schweden hatten wir ja schon geblogt). Beides prädestiniert dem Sauerbraten zu einem der Standardgerichte im deutschen Binnenland.

W ‘verbreitet’ sich über die Zubereitung von Pferde=Sauerbraten.
Arno Schmidt, Zettels Traum

Da es einfachen Bauern kaum möglich war, genügend Futter für die Überwinterung großer Tiere einzulagern, mussten bis in die Neuzeit im Dezember alle Rinder geschlachtet werden, bis auf wenige, besonders kräftige und gesunde Tiere, die zur Weiterzucht und für die Spannarbeit unverzichtbar waren. Entrecôte oder Filet wurden abgehangen und direkt verzehrt. Die weniger schöne Stücke konnte man als Sauerbraten einlegen, der Rest wurde verwurstet. Auch das Fleisch älterer Pferde wurde als Sauerbraten noch genießbar – bis ins 20. Jahrhundert ist der traditionelle Sauerbraten in vielen Gegenden, wie z.B. dem Rheinland aus Pferdefleisch.

»So was man auf dem Dorfe hat, wenn Ausstellung ist. Eine Griessuppe mit Petersilie, grüngenüffte Klöße mit Sauerbraten und Speckgriefen, einen Eierkuchen mit Heidelbeermansch und hinterdrein einen Apfelbrei mit Zimmetgestreu. Das ist gar etwas Gutes. Man hat es nicht alle Tage, nicht einmal alle Jahre!«
Karl May, Erzgebirgische Dorfgeschichten

Im 19. Jahrhundert wird der Sauerbraten zum Inbegriff des Gutbürgerlichen – von Münchhausen bis Hackländer. So darf der Sauerbraten auch nicht fehlen, wenn in einem aktuellen Kochbuch zu „Essen und Trinken mit Heinrich Heine“ Rezepte vorgestellt werden, „die dem Gourmet Heine gefallen haben dürften“, wie der Autor vermutet.

Recht mittelalterlich ist auf jeden Fall die süß-saure Würze geblieben – Nelken, Piment, Kardamom, Senf, Pfeffer, Wachholder, Zimt. Duftende Gewürze hatten in Zeiten vor Erfindung der Kühlkette vor allem den Zweck, einsetzende Verwesungsaromen zu übertönen; besonders Zimt wird als Antidot bis heute von der Lebensmittelindustrie in der industriellen Fleischproduktion eingesetzt.

In heutigen Online-Rezeptsammlungen dominieren fertige Würzmischungen, was zu diesem preiswerten und eher derben Rezept eine nicht ganz unpassende zeitgenössische Entwicklung darstellt. Wir dagegen wollen einen traditionellen Sauerbraten beschreiben, sehr bürgerlich und festtäglich.

Rezept

    Rinderschulter (oder andere, durchwachsene Stücke)

Für die Marinade:

  • 1l Rotweinessig
  • 1l Rotwein (Burgunder)
  • bis zu 1l Wasser
  • 2-3 Zwiebeln, in Achteln
  • 2 Karotten, geviertelt
  • Sellerie, Petersilienwurzel
  • 2 TL Senfkörner
  • 1 TL Weißer Pfeffer (ungemalen)
  • 1 TL Nelken (ungemalen)
  • einige Wachholderbeeren
  • einige Pimentfrüchte (ungemalen)
  • Zitronenschale von einer halben Zitrone
  • Salz
  • (evtl. Kardamom, ungemalen, eine Zimtstange)

Für die Sauce

  • Rinderbrühe
  • Suppengrün
  • Dörrpflaumen
  • Lebkuchen

Alle Zutaten für die Marinade in einen Topf geben und kurz, kräftig aufkochen. Abkühlen lassen, das Fleisch hineingeben und mit Wasser auffüllen, bis das Stück ganz bedeckt wird. Mindestens drei und bis zu acht Tage zugedeckt an einem kühlem Ort stehen lassen. Wichtig: wegen der Säure entweder einen Edelstahltopf verwenden oder die Marinade zum beizen in ein Keramikgefäß umgießen.

Suppengrün (evtl. mit Speck) in einem Bräter anbraten, mit reichlich Marinade ablöschen. Gleichzeitig das Fleisch in einer schweren Pfanne von allen Seiten kurz sehr scharf anbraten. Das Fleisch herhausnehmen und in den Bräter geben, die Pfanne mit der Brühe ablöschen, ebenfalls in den Bräter schütten.

Bei 120°C im Rohr für 2-3 Stunden braten lassen, dabei ständig beschöpfen.
Braten herausnehmen und ruhen lassen.

Für die Sauce Dörrpflaumen in der Beize einlegen. In einem Topf fein zerkrümelte Lebkuchen in Butter zu einer Art Mehlschwitze verrühren, mit der Flüssigkeit aus dem Bräter aufkochen. Die Dörrpflaumen ausdrücken und in die Sauce geben.

Wir haben den Sauerbraten zu Silvester mit Spätzle und Rosenkohl gegessen.
Am liebsten esse ich den Sauerbraten aber als Sandwich.

Sauerbratensandwich

Kalbsrouladen mit geschmalzner Brezenfarce

Pretze, Crustula, Ranftlein oder Plechlein – kaum ein Gebildbrot wird mit derart lyrischen Begriffen umschrieben, wie die Brezel. Bei dieser Laugenfrucht wird sogar die sonst so studienrätisch-trockene Wikipedia schwärmerisch und beschreibt – vermutlich von den Zensoren und Deletionisten bislang übersehen – das Idealbild dieser Backware in reifer Kulinarprosa:

Idealerweise hat der in sich symmetrisch verschlungene Teigstrang der Laugenbrezel außen eine knusprig-ledrige Salzkruste und innen einen weichen Hefeteigkörper, ist am sanft geschwollenen Bauch etwas aufgesprungen und saftig, in den dünnen Teigarmen kross, aber nicht trocken.

Bei diesem kollaborativ erstellten Leckerbissen wird die Schwarmintelligenz zur schwärmerischen Intelligenz, die mit dem „sanft geschwollenen Bauch“ das klassische Bildrepertoire frühzeitlicher Fruchtbarkeitskulte bemühen. Die Breze als laugenteigige Wiederkehr der Venus von Willendorf. Aber in diesem Splitter stecken natürlich noch zahlreiche weitere Verweise: von den sexuellen Untertönen der „symmetrisch verschlungenen Teigstränge“ bis hin zu der stenographischen Skizze eines erfüllten Lebens – wer wünscht sich nicht, an seinem Lebensabend als „kross, aber nicht trocken“ bezeichnet zu werden.

Diese assoziativen Felder lassen sich aber mit Hilfe ausgesuchter Begleitzutaten aber noch verfeinern. In farcierter Form kann die Brezel eine an Saftigkeit kaum zu übertreffende Verbindung mit einem saftigen Schnitzel von der Oberschale eines Bio-Kalbes eingehen. Wie auf Twitter bereits angekündigt, nun das Rezept.

Zutaten

  • 2 Brezen (knusprig, ledrig, sanft geschwollen, kross, nicht trocken)
  • 1-2 Eier
  • 100ml Milch
  • Petersilie
  • Zesten von der Zitrone
  • 1 Lauchzwiebel
  • 1 Möhre
  • Butterschmalz
  • 8 dünne Kalbsschnitzel
  • Bier (zum Beispiel Andechser dunkel)
  • Kalbsfond
  • Senf

Zubereitung

  1. Brezen entsalzen. Eine Hälfte sofort essen und herausfinden, ob die Brezel dem oben beschriebenen Idealbild entspricht. In Würfel schneiden und in eine Schüssel zusammen mit den Eiern und der Milch geben. Vollsaugen lassen, bis der „sanft geschwollene Bauch“ bis zur Überreife anschwillt. Dauer: ca. 10-20 Minuten.
  2. Petersilie hacken, Lauchzwiebel und Möhre waschen, putzen und ebenfalls fein hacken. In einer Pfanne 1EL Butterschmalz erhitzen und Lauchzwiebel mit der Möhre leicht anbraten. Danach für wenige Sekunden die Petersilie dazugeben. Die Mischung zusammen mit der ebenfalls klein gehackten Zitrone zu der Brezenmischung geben. Abschmecken mit Salz und Pfeffer und gut verkneten.
  3. Schnitzel abbrausen, trocknen und plattieren. Nach Belieben mit Senf bestreichen und anschließend die Breznfarce großzügig aufbringen. Die Ränder umklappen, das Schnitzel aufrollen und mit Zahnstochern, Spießen oder Nadeln befestigen.
  4. Schmalz in einer tiefen Pfanne erhitzen und die Rouladen darin von allen Seiten anbraten, um die Maillard-Reaktion in Gang zu setzen. Anschließend Bier und Fond angießen und bei schwacher Hitze ca. 30 Minuten köcheln lassen. Rouladen aus der Sauce nehmen, anschneiden und die aufgekochte und mit Salz und Pfeffer abgeschmeckte Sauce darüberträufeln.

Tarte tatin aux coings – Quitten-Tarte-Tatin

Die Quitte, wie der Apfel, Frucht eines Rosengewächses, stammt ursprünglich aus dem Raum des östlichen Mittelmeers. Auch heute liefert allein die Türkei etwa ein viertel der weltweiten Produktion.

In Europa war die Quitte -neben Honig- bis in die Neuzeit wichtigster Lieferant von Süße in der Küche. Der hohe Pektingehalt der Frucht macht sie ausgesprochen gut geeignet für Gelees.
So ist das Quittenbrot, Cottoniack, membrillo auf Spanisch, cotognata in Italien, bis in die Renaissance die am weitesten verbreitete Süßspeise. Das Portugisische Wort für Quitte marmelo gibt denn auch der Marmelade ihren Namen. Recht bekannt sind auch die Quittenrezepte des Nostradamus …

Kocht man die hellgelben Früchte, werden sie zunächst rosa und nehen schließlich die charakteristische, tiefrote Farbe des Quittenbrotes an. Diese eindrucksvolle Farbveränderung stammt von den, im Fruchtfleisch reichlich enthaltenen Phenolen,die beim Kochen zum Teil in Anthocyan zerfallen.

Quitten lassen sich nicht roh verarbeiten; nicht zuletzt deshalb sind ist sie in den letzten Jahrzehnten stark aus der Mode gekommen und zählen heute definitiv nicht mehr zum Standard-Sortiment im Obsthandel.

Rezept

    4-5 Quitten
    150g Zucker
    150g Quittengelee, Apfelgelee, Rosengelee oder Honig
    1 Zitrone
    Vanilleschote, Sternanis

Für den Teig:

    150g Mehl
    100g sehr kalte Butter
    1-2 TL Zucker
    etwas Salz
    ca. 100ml Eiswasser

Die Quitten schälen (ja, ich weiß, die Schale enthält die meisten Aromen, aber in der Tarte schmeckt sie nicht gut.), vierteln und in ca. 2l Wasser mit dem Zucker, dem Gelee, der halbierten Zitrone und den Gewürzen köcheln, bis sie einigemaßen weich sind.

Abgießen. Den Sud auffangen und zu einem Sirup einkochen lassen. Die Quitten beiseite stellen.

Für den Teig Mehl, Zucker und Salz vermischen. Die in kleine Stückchen geschnittene kalte Butter dazugeben und kurz durchkneten (am besten die Hände vorher unter kaltes Wasser halten, abtrocknen und einmehlen). Den Teig auf Alufolie zu einer runden Scheibe ausbreiten, zudecken und mindestens 30 Minuten kaltstellen.

Den Quittensirup in eine Tarteform gießen. Die Quittenviertel hineindrücken. Den Teig mit dem Wellholz auswellen und über die Quitten breiten. Etwas festdrücken.
Ca. 45 Minuten bei 180°C im Ofen backen.

Die Tarte etwas Abkühlen lassen. Auf eine Platte stürtzen.

Die Süddeutsche Zeitung – eine plumpe Kreation

Caesar SaladKaum zu glauben, dass es noch ein Thema gibt, zu dem die Süddeutsche Zeitung in der Lage ist, ähnlichen Unsinn zu schreiben, wie zum Thema Weblogs. Aber in der letzten Wochenendbeilage zeigte der SZ-Architekturkritiker Gottfried Knapp eindrucksvoll, wie wenig Recherche und Halbwissen notwendig sind, um eine volle Seite der „Qualitätszeitung“ füllen zu dürfen.

Unter dem Titel „Abgespeist“ versucht er, dem Leser gewisse Ähnlichkeiten zwischen der Molekularküche und Fastfood nahezubringen. Er nennt es „untersuchen“, ich würde es eher eine reaktionäre, sachwissensfreie Polemik nennen. Sachwissensfrei? Wie sonst könnte man sich erklären, dass die Farce zusammen mit Schaum, Spiegel und Rauch als eine der vier Widerwärtigkeiten der Molekularküche dargestellt wird. Die Farce! Da spielt es keine Rollle, dass das Kleinhacken von Fleisch als Füllung eine kulinarische Kulturtechnik ist, die mindestens seit dem 17. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreicht hat.

Gegen Ende wird dann der Caesar Salad mit Gaius Julius in Verbindung gebracht, der wahrscheinlich über ein Gericht mit Worcestershire Sauce mehr als überrascht gewesen wäre, und nicht mit dem Tijuaner Koch Caesar Cardini. Und das Hamburgerbrötchen ist mitnichten eine Erfindung von McDonald’s damit „die Käufer den plattgedrückten heißen Fleischklops anfassen und ohne Gabel zum Munde führen können“, sondern wurde bereits 1904 auf der St. Louis World Fair den fleischhungrigen Besuchern präsentiert. Den Hamburger als „plumpe Kreation“ bezeichnen – das kann eigentlich nur jemand, der noch nie das großartige Mundgefühl eines locker zusammengedrückten, medium rare gebratenen Hackcuvées aus 25% Schulter, 50% Rippe und 25% Rinderbrust erfahren durfte.

Zur Hauptthese der Ähnlichkeit von Fastfood und Molekularküche und dem Statement von Ferran Adrià, das den Autor so unglaublich provozieren scheint – „In einem Interview über die Fastfoodkette McDonald’s hat er sich den Satz entlocken lassen, auch er, der Drei-Sterne-Koch, könne zum Mc-Preis keinen besseren Hamburger herstellen als die 31000 Filialen des Konzerns“ -, ist eigentlich nur zu sagen: Wenn der Autor ein wenig recherchiert hätte (vielleicht auch in diesem Blog), hätte er festgestellt, dass Ferran Adrià das nicht nur als Dreisternekoch sagt, sondern auch als Gründer einer Fastfoodkette (Fast Good), die unter anderem auch Hamburger im Angebot hat. Daraus wäre dann vielleicht eine interessante Geschichte geworden über die ganze Bandbreite des molekularkulinarischen Bearbeitens von Nahrungsmitteln.

Molekulare Gastronomie am Beginn der Reifephase

Definitionen erleichtern das Leben. Wenn sich eine Autorität dahinter verbirgt – sei es eine klassische Autorität, die mit Wissenstiteln ausgestattet ist oder eine vernetzte Autorität nach dem Prinzip „many eyes make bugs shallow“ – wird eine Definition schnell zum alltagspraktisch verwendeten Deutungsmuster. Kurz: Autoritäten definieren Realität.

Gerade eben habe ich entdeckt, dass auch die „molekulare Gastronomie“ bereits einen derartigen Schritt erfahren durfte, sie wurde von der Oxford University Press zum „Wort des Monats“ erklärt und definiert als:

the art and practice of cooking food using scientific methods to create new or unusual dishes

Danach folgen Hinweise auf die „Erfinder“ des Begriffs, Nicholas Kurti und Hervé This sowie die großen Heroen der molekularen Küche, die sich selbst jedoch immer wieder von diesem Begriff distanzieren: Ferran Adrià und Heston Blumenthal. Damit erscheint mir das Ende der wilden, subversiven Phase der molekularen Gastronomie eingeläutet. Es beginnt die Zeit des Prüfens, Aussortierens und Verfeinerns der „neuen oder ungewöhnlichen“ Geschmackseindrücke und Gerichte: Welche Zubereitungsweisen oder Geschmackskombinationen bleiben? Welche waren nur der gastronomischen Aufmerksamkeitsökonomie geschuldet?

Ich bin aber überzeugt, dass „die“ Molekulargastronomie nicht untergehen wird. Vielleicht verliert oder verändert sie ihren Namen, aber gewisse Grundprinzipien des wissenschaftlich-aufgeklärten Kochens werden überleben, ähnlich wie auch nach dem Tod der nouvelle cuisine bestimmte Herangehensweisen und Grundüberzeugungen – weniger Fleisch, Fokus auf die Qualität der Zutaten, Verzicht auf das Zukleistern mit dicken Saucen – geblieben sind. Grundüberzeugungen, die auch den ehemaligen Gegnern dieser Küche mittlerweile lieb geworden sind.


Für den Bereich technologische Innovationen evaluieren die Analysten von Gartner Jahr für Jahr den „Reifegrad“ von neuen Technologien und erstellen daraus ihren „Hypecycle„, der folgende Phasen unterscheidet:

  1. Technology Trigger
  2. Peak of Inflated Expectations
  3. Trough of Disillusionment
  4. Slope of Enlightenment
  5. Plateau of Productivity

Meiner Ansicht nach ist die Molekulare Gastronomie gerade auf dem besten Weg auf die „Ebene der Aufklärung“. Oder geht die Desillusionierung noch weiter?

(Abbildung „Hype Cycle“ von Jeremy Kemp. CC-by-SA)

Hervé This in Mainz

Wer sich Anfang nächster Woche in der Umgebung von Mainz aufhält, sollte unbedingt am Dienstag, 25. November einen Abstecher ins Max-Planck-Institut für Polymerforschung machen. Dort wird der Pate der Molekularküche Hervé This („Rätsel und Geheimnisse der Kochkunst“) einen Vortrag über die „neuesten Methoden und Forschungsergebnisse der Molekulargastronomie“ halten. Wer This schon einmal live erlebt hat, weiß, dass hier nicht nur Forschungsergebnisse referiert werden, sondern dass das vermutlich ein sehr unterhaltsamer Nachmittag wird:

Der Eintritt ist frei. Vortragssprache ist Englisch.
Max-Planck-Institut für Polymerforschung
Hermann-Staudinger-Hörsaal
Ackermannweg 10
55128 Mainz
Beginn: 14:30 Uhr