Kategorie-Archiv: philosophie

Liquidum non frangit jejunum

Der Verzicht auf Essen oder Trinken spielt in den meisten Religionen eine wichtige Rolle. Wenn es darum geht, zur geistigen Sammlung oder seelischer Erweiterung, zur Selbsterhebung zu gelangen, scheint Fasten ein unverzichtbarer Bestandteil (s. dazu auch hier).

Essen und Trinken sind aber keineswegs grundsätzlich schlecht. Im Gegenteil spricht Christus über sein Verhältnis zu Essen und Trinken:

Denn Johannes der Täufer ist gekommen, der weder Brot aß, noch Wein trank, und ihr saget: Er hat einen Dämon. Der Sohn des Menschen ist gekommen, der da ißt und trinkt, und ihr saget: Siehe, ein Fresser und Weinsäufer, ein Freund von Zöllnern und Sündern.
Lk 7,33

Thomas von Aquin nennt also drei Gründe für das Fasten im christlichen Leben:

Es soll die Begierde des Fleisches zügeln, dem Geist die Betrachtung des Erhabenen erleichtern und Genugtuung für die Sünden leisten.

Die Fastenzeit läd natürlich auch uns zur Auseinandersetzung mit einigen Themen des Kochens ein. Zunächst die Frage, welche Ernährung in der Fatenzeit angemessen ist. Seit dem 13. Jahrhundert sind alle Katholiken über sieben Jahren zum Fasten verpflichtet. An den Abstinenztagen heisst dass: nur eine sättigende Mahlzeit (collatio) und höchstens zwei kleine Brotzeiten, die in Summe aber nicht die Menge der collatio ergeben dürfen.

Wollte man Fleisch vermeiden, so wurde bereits im frühen Mittelalter neben dem heute üblichen Fisch auf andere Eiweißreiche und gehaltvolle Nahrung zurückgegriffen – als Fleisch gilt nur das Fleisch von warmblütigigen Tieren, manchmal sogar nur von vierfüßlern: Sumpfschildkröten, Schnecken, Muscheln, Flusskrebse waren beliebte Fastenspeisen. Eier dagegen als „flüssiges Fleisch“ verboten. Allerdings waren im Mittelalter etwa ein Drittel aller Tage des Jahres Fasttage, dabei aber die meisten nicht als Tage der strengen Abstinenz – das hätte die Gesundheit wohl doch zu stark angeschlagen.

Neben Fisch und Weichtieren ist natürlich das Starkbier als Fastenspeise berühmt. Es gilt ja die Regel

Liquidum non frangit jejunum
Flüssiges bricht das Fasten nicht

Diese Regel gilt allerdings keineswegs allgemein: Milch, Honig oder Fleischbrühe brechen sehr wohl das Fastengebot:

Nota, quôd illud axioma “ liquidum non frangit jejunium,“
non sit universaliter verum ; nam lac, mel & similia liquida sumpta frangunt jejunium. Potio chocolat non est merus potus juxta praedicta. Una uncia chocolat, prout ordinarie sumitur, praebet exiguum nutrimentum.[…] Cerevisia fortis est etiam concoctum ex aqua & farina granorum ; atqui iste potus non frangit jejunium ; ergo nec concoctum chocolat.

(sinngemäß: „die Regel, dass Flüssiges das Fasten nicht bricht, ist nicht grundsätzlich wahr; denn Milch, Honig und ähnliche verschenderische Flüssigkeiten brechen das Fasten. Getrunkene Schokolade ist nicht auf gleiche Weise vorgeschrieben. Eine Unze Schokolade gewährt je nach dem, wie sie verzehrt wird, geringe Nahrung.[…] Starkbier ist ebenfalls aus Wasser und Getreide gebraut; und dennoch bricht dieses Getränk das Fasten nicht; daher auch nicht die gebraute Schokolade.“)
Theologia moralis et dogmatica, Pierre Dens

Als nämlich im 16. Jahrhundert von Spanien aus die Schokolade ihren Siegeszug im Abendland begann, wurde die Frage nach der Fastentauglichkeit dieser zwar pflanzlichen aber auch sehr sinnlichen Speise, die alles andere als die Kontemplation fördert, für die durch die Reformation ohnehin gebeutelte katholische Kirche ein Thema.

Besonders die Jesuiten, die starken Anteil am Kakaohandel mit der Neuen Welt hatten, vertraten deutlich die These, dass Schokolade als Getränk im Einklang des christlichen Fastengebotes stünde. Der Legende wurdell Paul V. vom Bischof von Mexico im Jahre 1569 bedrängt, zu einer Entscheidung zu kommen, da in Mexiko der Genuss von Schokolade zur Fastenzeit unerträgliche Ausmaße angenommen hatte. Da der Papst noch nie Schokolade gekostet hatte, ließ er sich eine Tasse servieren, um sich ein Urteil zu bilden. Von dem ungewohnten Geschmack angewiedert soll er ausgerufen haben:

Potus iste non frangit jejunum!
Dieses Zeug bricht das Fasten nicht!

Diese Regel wurde mehrfach vom Vatikan bestätigt, nicht zuletzt im 17. Jahrhundertvon Kardinal Francesco Maria Brancaccio.

Das strenge Fastengebot wurde mehrfach gelockert. Zunächst wurden 1091 auf der Synode von Benevent die 46 Tage vom Aschermittwoch bis Ostern auf die spirituell wichtigen und seit Hieronymus überlieferten 40 Tage verkürzt:

Und er war daselbst bei Jehova vierzig Tage und vierzig Nächte; er aß kein Brot und trank kein Wasser.
2. Mose 34,28

Dann wurde Jesus von dem Geiste in die Wüste hinaufgeführt, um von dem Teufel versucht zu werden; und als er vierzig Tage und vierzig Nächte gefastet hatte, hungerte ihn danach.
Mt 4,1

Und schließlich sind seit der Reform durch Paul VI im Jahre 1966 nur noch Aschermittwoch und Karfreitag strenge Fasttage, Aber die Kirche empfiehlt weiter nachdrücklich, die ganze Fastenzeit als Zeit der Sammlung zu halten.

Eine interessante Empfehlung, Fasten und Kochen zu verbinden gibt uns der Kapuziner Bruder Paulus Terwitte:

„Raus aus der Spur – trau dich mehr Leben ins Leben zu bringen. Versuch’s mit natürlichem Kochen – weg von der Tütensuppe.“

Aber wie steht es mit Molekularen Speisen? Vegetarische Espumas sollten kein Problem sein, ebenso mittels Algen gewonnene Gels.

Essen und Gewalt – demonstriert am Kalbsragout "Marengo"

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Um festzustellen, dass Essen etwas mit Gewalt zu tun hat, muss man nicht das Extremfall des Kannibalismus bemühen. Mit jedem Bissen verleibt man sich etwas anderes, unterlegenes ein. Auf den ersten Blick recht unproblematisch stellt sich das im Alten Testament dar: „Machet euch die Erde untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alles Getier, das auf Erden kriecht“ (1. Mos 1, 28). Der Mensch wird als Krone der Schöpfung gesetzt und hat insofern (später dann allerdings im Schweiße seines Angesichts) das angestammte Geburtsrecht, Teile der Schöpfung zu verspeisen.

In vielen anderen Kulturen – den meisten? Ethnologen können stundenlang Rituale und Mythen schildern, die sich um das Verspeisen drehen – ist dieses konsummierende Verhältnis zur pflanzlichen und tierischen Umwelt ein tiefes Problem, da dort kein prinzipieller Unterschied zwischen Mensch und Natur gemacht wird. Für uns triviale Akte wie das Verspeisen einer Yamswurzel wird zum Beispiel für die Abelam in Papua-Neuginea zu einem Brudermord, der nur mit Hilfe eines ausgeklügelten mythologischen Apparats wieder ins Gleichgewicht eingefügt werden kann. Ganz zu schweigen von dem eigentlich unmöglichen, aber dennoch notwendigen Verspeisen des eigenen Totemtiers, durch das die animalische Kraft auf den Menschen und seine Gemeinschaft übertragen werden kann – die unio mystica kann auf diese Weise erneuert und vertieft werden.

Man sieht sehr schnell, dass es im Wesentlichen darum geht, dem Essen (und Töten, Ernten) einen Sinn zu geben, der diese Störung der kosmischen Ordnung neutralisieren kann. Essen ist von Anfang an eine sinnhafte Tätigkeit und nicht nur die Aufnahme von Kalorien.

180px-marengo.jpgMöchte man diesen Zusammenhang von Essen und Gewalt auch einmal praktisch erfahrbar machen, bietet die haute cuisine zahlreiche Beispiele, die sich dazu eignen, sich dieser Problematik selbst einmal konsummatorisch zu nähern. Zum Beispiel das folgende Kalbsragout „Marengo“. Es ist benannt nach dem kleinen Ort in der Mitte des Dreiecks Mailand, Genua, Turin, in dem Bonaparte (später Napoléon I) im Jahr 1800 die von Michael Friedrich Benedikt von Melas angeführten österreichischen Truppen geschlagen hat, die sich daraufhin der Konvention von Alessandria unterworfen haben und Italien verließen.

Da Bonaparte wie üblich nüchtern ins Gefecht ging war er von der wilden Verfolgung der österreichischen Truppen hungrig geworden. Er verlangte von seinem Koch Dunand eine sofortige Mahlzeit. Die Truppen schwärmten aus und fanden nur ein mageres Hühnchen, vier Tomaten, drei Eier, ein paar Flusskrebse, etwas Knoblauch, etwas Olivenöl und eine Bratpfanne. Aus diesen Zutaten bereitete der Koch – mit einem Schuss Cognac aus Bonapartes Trinkflasche und etwas trockenem Brot – sein Huhn „Marengo“ zu. Dieses Gericht schmeckte dem Feldherrn nicht nur besonders gut, sondern wurde für ihn das Symbol seines Sieges über die Österreicher, das er sich von nun an nach jedem Gefecht servieren ließ. Jegliche Modifikationen der Zutaten wurden strengstens untersagt und auch heute soll es noch Restaurants im Piedmont geben, die aus historischen (nicht: geschmacklichen!) Gründen diese ungewöhnliche Kombination aus Huhn und Flusskrebsen servieren.

Sehr schön auch die symbolische Parallelisierung von Mensch und Tomate in Raymond Olivers (ehemals Chefkoch im Grand Véfour) Deutungsvorschlag: „Pour remporter la victoire à Marengo, Bonaparte dut sacrifier in extremis son ami Desaix. Pour réussir cette recette, il faut au tout dernier moment sacrifier aussi la tomate.“

Bei Paul Bocuse taucht das Rezept als „Sauté de veau Marengo“ (Kalbsragout „Marengo“) auf, deutlich reduziert (Weißwein statt Cognac, keine Flusskrebse, keine Eier) und mit einer gefunden Pfanne nicht zu bewältigen, aber dennoch mit genügend Hinweisen auf die Entstehung des Gerichts wie zum Beispiel die Toastbrotherzen als Garnitur oder die große Menge Knoblauch und Zwiebelchen. Und natürlich auch die Tomaten.

Zutaten (6 Personen)

  • 800g Kalbsfleisch, gewürfelt (ich habe Rindfleisch verwendet, wird zwar etwas bissfester, passt aber geschmacklich klasse)
  • 100g Butter
  • 2 EL Olivenöl
  • 1 Möhre, in Scheiben geschnitten
  • 2 mittlere Zwiebeln, geviertelt
  • 20g Mehl
  • 2 Knoblauchzehen
  • 1/10l trockener Weißwein
  • 200ml Tomatenmark
  • 1 Kräutersträußchen (Petersilie, Thymian, Lorbeerblatt)
  • 500g Kalbsfond
  • 12 kleine Zwiebelchen
  • 125g Champignons
  • etwas Zitronensaft
  • 6 in Butter geröstete Toastbrotherzen
  • 1 TL gehackte Petersilie

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Zubereitung

  1. In einem großen Topf 50g Butter und Olivenöl erhitzen. Dann die Fleischstücke (Bocuse sagt: vorher salzen, wir lassen das weg), die Möhre und die Zwiebeln hineingeben. Unter häufigem Wenden das Fleisch anbraten und so für die aromatischen Maillardprodukte sorgen. Nun das Mehl darüberstäuben – hier merkt man deutlich die ambivalente Position von Bocuse in der Geschichte der Nouvelle Cuisine, die sich gerade gegen die Mehlküche gerichtet hat – und goldbraun werden lassen. Jetzt noch die zerdrückten Knoblauchzehen dazu und kurze Zeit erhitzen, dann mit dem Weißwein ablöschen. Um 2/3 reduzieren und schließlich das Tomatenmark und soviel Fond dazugeben bis das Fleisch gerade bedeckt ist (bei Bedarf später noch etwas nachgießen). Unter Rühren aufkochen und dann bei milder Hitze 1 Stunde köcheln lassen.
  2. Zwiebelchen schälen, kurz überbrühen, trocknen und dann in 25g Butter anbraten bis sie goldbraun sind.
  3. Champignons putzen, waschen, abtropfen lassen. Stiele abschneiden und zum Ragout tun. Die Champignons schälen und die großen Pilze vierteln. In 25g Butter anbraten bis sie beginnen, etwas Farbe anzunehmen.
  4. Wenn das Ragout fertig gekocht ist, das Fleisch aus der Sauce nehmen und auf die warmen Champignons legen. Darüber die Zwiebeln streuen. Warm halten.
  5. Wenn nötig das Fett auf der Sauce abschöpfen, dann die Sauce durch ein Sieb über das Fleisch gießen. Mit Salz und Pfeffer abschmecken. Dann weitere 20 Minuten zugedeckt köcheln lassen.
  6. Anrichten: Mit etwas Zitronensaft würzen, Petersilie darüber streuen und die Toastherzen dazulegen.

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Natur / Kultur

Prometheus bringt den Menschen das Feuer

Auch wenn der zum Teil heftig geführte Meinungsaustausch über Sinn und Unsinn der Molekulare Küche nicht überrascht, so öffnet er direkt oder beispielhaft den Blick auf einige zentrale Aspekte der Bedeutung von Kultur.

Neue Techniken verändern immer auch den, der sie nutzt – oft stärker als seine Umwelt, die er mit der neuen Technik beeinflussen will. Vieles davon hat in einiger Ausführlichkeit Herbert Marshal McLuhan beschrieben. (Nicht jede Technik ist allerdings das, was wir im DLD-Deutsch als disruptiv bezeichnen.)

Je weiter man in der Menschheitsgeschichte zurückgeht, desto mehr verschwimmt ohnehin der Technische „Fortschritt“ mit der biologischen Evolution: die Beherrschung des Feuers ist sowohl der Beginn der Küche als auch der Anfang des modernen Menschseins schlechthin. Es ist offenbar die Natur des Menschen, zu kochen – es ist die Natur des Menschen, Kultur zu entwickeln.

Zu dieser Diskussion Natur/Kultur des Kochens möchte ich im Folgenden einige mehr oder weniger unzusammenhängende Gedanken beitragen:

1. Die erhabene Natur unseres Körpers – vom Kochen und Verdauen.
2. Triumph der Apparate Triumph der Apparate – verarbeitete Speisen funktional einfach, strukturell komplex
3. Slow Food – nicht langsam gegessen, sondern langsamer zubereitet
4. Roh – gekocht – verfault
5. Auf dem Weg zur Noosphäre – Kochen als Erweiterung unseres Körpers

Die erhabene Natur unseres Körpers

Prometheus bringt den Menschen das Feuer

vom Kochen und Verdauen.

– Natur/Kultur, Teil 1 –
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Ernährung steht zu Kochen wie die Fortpflanzung zu Erotik. Essen und Sexualität ist gemeinsam, dass wir, getrieben von unseren – natürlichen – körperlichen Bedürfnissen versuchen uns gleichzeitig mit deren Befriedigung Genuss zu verschaffen. Was uns beim Essen schmeckt, lässt sich in undurchdachten Rationalisierungen leicht auf Anpassung an die Umwelt im Lauf unserer biologischen Evolution reduzieren. Der Bedeutung von Kochen und Essen nähern wir uns dadurch allerdings nicht an.

In einem Zimmer sitzt eine Familie um einen Tisch; allerdings nicht auf Stühlen sondern auf Toiletten. Der Sohn der Familie flüstert seiner Mutter zu, dass er etwas essen möchte. Diese reagiert verschämt und begleitet ihn in ein Kabinett, in dem er in Abgeschiedenheit seine Notdurft des Essen verrichten kann.

Wir stehen durch die surreale Umkehr von Essen und Verdauen aus Buñuels Das Gespenst der Freiheit, auf einmal auf der anderen Seite dieser scheinbare Linie zwischen der Kultur Essen und der Natur Verdauen. Wie bei Sexualität sind auch Abbildungen oder Erzählungen über die Verdauung so wirkmächtig, dass uns die Bilder unmittelbar berühren und keine Distanz zulassen – uns zu Pornografie werden. Haben wir erst einmal an dieser Pest der Phantasmen angesteckt, werden wir diese Bilder nur schwer wieder los. Wir können das als eine Machtlosigkeit erleben.

Während Kultur, wie anderswo schon erwähnt, bis in die frühe Neuzeit verstanden wird, als Anstrengung der Menschen, den menschenfeindlichen Gewalten der Umwelt Stück für Stück Boden abzuringen, nehmen in der Neuzeit mehr und mehr die Städte mit ihren verarmenden Heerscharen entfremdeter Arbeiter und den daraus folgenden, ungelösten sozialen und hygienischen Problemen die Rolle des Widermenschlichen ein. Dazu kommt das bürgerliche Bedürfnis der Abgrenzung von den aristokratischen Ritualen, dem „künstlichen Leben“ am Hof, stark durch Frankreich geprägt.

Die Natur bildet den Fluchtpunkt vor der gefühlten Dekadenz der Kultur. „Mens sana in corpore sano“ führt wie selbstverständlich anti-aristokratische Motive mit gesunder Ernährung zusammen. Natur besitzt für die Menschen der Romantik dabei zwei starke, gegensätzliche Konturen. Sie ist zunächst weder gut noch schlecht – die Natur kann aber aus Sicht der Menschen, die sie betrachten, schön sein, und Natur kann über die Menschen, die ihr ausgeliefert sind erhaben sein und grausam wirken, gerade, weil sie keinen Unterschied zwischen gut und böse macht. Diese dialektische Sicht der Natur als schön und erhaben zieht sich bis in unsere Zeit wie ein roter Faden der Geistesgeschichte. Als Darwins Idee von der Evolution durch Auswahl durchzusetzen begann, war dies ein willkommener Rahmen, den erhabenen Aspekt der Natur überzubetonen und daraus die Rechtfertigung für eigene Grausamkeiten abzuleiten. Die Naturgesetze, d. h. Zusammenhänge, die wir in der Natur beobachten, bekommen in den wirren Ideologien des 19. Jahrhunderts die Rolle von Normen zugeschrieben, d. h. von Gesetzen, an die man sich aus moralischen Gründen halten muss. Dabei wird eine vorkulturelle Natürlichkeit als Leitbild konstruiert.

Den Körper durch Diät reinigen, fasten, entschlacken etc. – mit unserem Essen müssen wir uns wohl auseinander setzen, wenn wir versuchen, wie auch immer, das menschliche Sein unverstellt erleben zu wollen, auf den Grund der Existenz zu kommen. In der Ideologie der „Natürlichkeit“ verliert das Fasten aber seine spirituelle Bedeutung und wird zum bewussten Gegensatz kultivierten Essens: zurück zu roher Kost, wie sie in 1,6 Millionen Jahren Menschheitsgeschichte nicht mehr verzehrt wurde.

Eine schöne Illustration der teilweise skurrilen Naturbewegung liefert der Roman/Film Road to Wellville von T.C. Boyle / Allan Parker. Alles dreht sich in Mr. Kelloggs Hospital Welleville um die Natur unseres Körpers und insbesondere obsessiv um Verdauung.
Die Barbarei des dritten Reiches wird dem Besucher der Dokumentationsstätte Obersalzberg nicht zuletzt beim Blick auf die Speisekarte offenbar: zu jeder Malzeit geschrotete Körner mit Fruchtsaft; kein Wunder, dass sich dann die Verdauung im Verhältnis zum Essen zum eigentlichen Thema aufbläht.

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Weiterführende Literatur

Triumph der Apparate

Prometheus bringt den Menschen das Feuer

verarbeitete Speisen sind funktional einfach, strukturell komplex

– Natur/Kultur Teil2 –
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Das ist ein Merkmal des Fortschritts: Alles wird strukturell komplexer, um funktionell einfacher zu werden.
Vilém Flusser

Künstlichkeit – das ist der Vorwurf, dem sich die Molekulare Küche ausgesetzt sieht. Kurti und This ist es gelungen, insbesondere die analytischen Techniken der Lebensmitteltechnik in unsere Küchen zu führen; Adrià hat uns Geliermittel salonfähig gemacht, die zuvor nur industriell eingesetzt wurden, Blumenthal beschenkt uns mit Hummerbrühe, gefriergetrocknet, wie einen Brühwürfel.

Noch vor 100 Jahren mussten zumindest die Haushalte auf dem Lande alle Schritte des Kochens selbst in der Hand behalten – beginnend beim Anbau der Rohstoffe, dem Schlachten des Viehs, dem Schlagen des Holzes zum Heizen des Herdes, bereiten der Butter etc. Das bedeutet auf der einen Seite viel Arbeit, auf der anderen Seite aber auch die vollständige Beherrschung der Technik.

Convenience-Food hat ja seinen Namen nicht von ungefähr: je mehr wir das Kochen industrialisieren, an Spezialisten abgeben, desto weniger sind wir Herr über unsere Ernährung, aber auch – mindestens genauso wichtig – über unseren Geschmack!

Wieder hat bereits McLuhan pointiert, dass der Manager, der sich streng an seinen Terminplan halten muss, als Servo-Mechanismus seiner Uhr funktioniert, genau, wie man den Indianer, der sein Kanu rudert, als Motor des Kanus funktioniert. Folgen wir den Apparaten, funktionieren diese nicht mehr als Erweiterung unserer Sinne, sondern wir nehmen die Funktion der Erweiterung der Apparate ein.
Mehr dazu hier.

Und hier sind wir am Punkt der Kritik an der Molekularen Gastronomie angekommen: flüssigen Stickstoff werden wir uns nie selbst kondensieren, Alginat kaum selbst extrahieren. Es wird uns offenbar, dass wir das Heft vielleicht schon aus der Hand gegeben haben. Wer backt noch Brot? Wer wurstet selbst? Und nur Experten bereiten sich die – fürs tägliche Kochen doch unverzichtbaren – Fonds noch regelmäßig selbst.

Molekulare Küche ist die Synthese dieser Gegensätze: Sie geht dem Kochen analytisch auf den Grund und gibt uns dadurch mehr Kontrolle, als je zuvor; analytisch bedeutet ja gerade Schritt für Schritt; Molekulare Küche ist ja alles andere, als Conveniece Küche, aber sie akzeptiert die Realität der „Entfremdung“, der zunehmenden Distanz von weiten Teilen des Produktionsablaufs.

Molekulare Küche ist progressiv (im ideologischen Sinn).

[Weiter zu Natur/Kultur Teil 3: Slow Food – Rückeroberung der Küche]

Weiterführende Literatur

Slow Food

Prometheus bringt den Menschen das Feuer

Rückeroberung der Küche

– Natur/Kultur Teil 3-
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„Ich möchte die Geschichte einer Speise kennen. Ich möchte wissen, woher die Nahrung kommt. Ich stelle mir gerne die Hände derer vor, die das, was ich esse, angebaut, verarbeitet und gekocht haben.“
Carlo Petrini, „Buono, pulito e giusto“

Die Industriegesellschaft hat zuerst die Maschine erfunden und nach ihr das Leben modelliert. Mechanische Geschwindigkeit und rasende Beschleunigung werden zur Fessel des Lebens. […] der Homo sapiens muss sich von einer ihn vernichtenden Beschleunigung befreien und zu einer ihm gemäßen Lebensführung zurückkehren. Es geht darum, das Geruhsame, Sinnliche gegen die universelle Bedrohung durch das „Fast Life“ zu verteidigen. Gegen diejenigen – sie sind noch die schweigende Mehrheit -, die die Effizienz mit Hektik verwechseln, setzen wir den Bazillus des Genusses und der Gemütlichkeit, was sich in einer geruhsamen und ausgedehnten Lebensfreude manifestiert.
Slowfood Manifest

Was macht Slow Food aus? Als langjähriger begeisterter Leser des Slow Food Magazin muss ich feststellen: Slow Food dreht sich weniger ums langsame Essen, als vielmehr ums langsame, d. h. sorgfältige Zubereiten! Das Zitat von SF-Gründer Petrini weist uns genau den Weg: es geht darum, die Kontrolle über unser Essen zu behalten, uns nicht beherrschen zu lassen.

Genau hier leistet die Molekulare Küche einen wertvollen Beitrag. Wir lernen, wie wir Speisen dekonstruieren, Techniken analysieren und, wenn sie uns ins Rezept passen – selbst anwenden können. Slower als hier kann man ein Steak wohl kaum braten …

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Roh – gekocht – verfault

Prometheus bringt den Menschen das Feuer
– Natur/Kultur Teil 4 –
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Man kann nicht alle [Nahrungsmittel] unter den gleichen Umständen servieren. Die einen werden genossen, ehe sie sich völlig entwickelt haben – Kapern, Spargel, Spanferkel, Tauben und dergleichen Tiere, die man in ihrer Frühzeit verzehrt; andere im Augenblick, da sie die höchste Stufe der Vollkommenheit ersteigen, die ihnen beschieden – Melonen, die meisten Früchte, das Schaf, der Ochse und alle ausgewachsenen Tiere; wieder andere gerade, wenn ihre Zersetzung anhebt – Mispeln, Schnepfen und vor allem der Fasan; machen endlich werden erst künstlich die schädlichen Eigenschaften genommen – der Kartoffel, dem Maniok und ähnlichem.
Brillat-Savarin

Über das Dreieck der Nahrung von Levi-Strauss hatten wir schon früher geschrieben. Auch zur Diskussion um natürlichere versus künstlicheres Kochen können wir hier Anregungen finden.
Bitte keinen Sarkasmus; ich weiß, dass natürlich und künstlich statische Begriffe sind, die sich sowenig steigern lassen, wie ‚rot‘ oder ‚viereckig‘; aber über die sprach-begriffliche Unsinnigkeit unserer Diskussion hatte bk sich ja bereits umfangreich geäußert …

Nach Levi-Strauss können wir alles, was wir Essen, in der Fläche des Dreiecks verorten, dessen Ecken die Reinform des Zustandes bilden: roh, also unbearbeitet, gekocht, d. h. kulturell bearbeitet oder verfault, im Zustand der Zersetzung.
Wir nehmen unsere Nahrung so gut wie nie vollkommen roh und unbearbeitet zu uns – selbst roh verzehrtes Gemüse waschen und schälen wir in der Regel. Ebenso haben wir den verzehr von Aas seit einigen Millionen Jahren aufgegeben. Vielmehr befindet sich unsere Nahrung stets im Zustand mehr oder weniger stark fortgeschrittener kultureller Denaturierung (gekocht, gebraten, konfiert etc.) oder natürlicher Zersetzung (fermentiert, vergoren, abgehangen etc.), wie dies gewohnt eloquent von Brillat-Savarin in unserem Eingangszitat aufgezählt wird.

Hier meine Version der oben zitierten Aufzählung Brillat-Savarins im Dreieck von Levi-Strauss:
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Weiterführende Literatur

Auf dem Weg zur Noosphäre

Prometheus bringt den Menschen das Feuer

Natur/Kultur Teil 5

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Homo habilis – der geschickte Mensch – ist der erste Frühmensch, der sich von ca. 2,5 Mio. Jahren Werkzeuge aus Stein herstellt, vermutlich, um Fleisch (d. h. Aas) damit zu zerschneiden. Diese Steinmesser setzt er sozusagen als Erweiterung seiner Hände und Zähne ein. Das Messer als Erweiterung von Hand und Zahn, das Auto als verlängertes Bein – das alle Werkzeuge, alle Medien, die wir Menschen einsetzen, unseren Körper, speziell unsere Sinne erweitern, ist ein Gedanke, den wir dem Paläontologen und Philosophen Pierre Teilhard de Chardin S.J. verdanken, den dieser 1922 in seiner Kosmogenese entfaltete. Herbert Marshall McLuhan machte diesen Ansatz Teilhard zur Basis seines Hauptwerks Understanding Media: the Extensions of Man.
Am prominentesten wurde McLuhans These daraus, dass die elektronischen Medien als globale Erweiterung unseres Nervensystems fungieren.

Aber auch Kochen und im weiteren Sinne Konsum können wir in diesem Rahmen deuten. Wenn wir Speisen garen oder durch Fruchtsäure oder Essig die Eiweißmoleküle denaturieren, wenn wir die Rohstoffe zerkleinern, das Fleisch zerlegen, so verlagern wir sozusagen die Funktion unserer Zähne, des Speichels und der Magensäfte sozusagen teilweise nach außen. Wir verlängern unseren Körper durch Technik.

McLuhan steht dabei dieser Körpererweiterung ähnlich kritisch gegenüber, wie ihre Kritiker der Molekularen Küche. Er stellt fest, dass wir mit jeder dieser technischen oder kulturellen Erweiterungen gleichzeitig in unseren (körper-)eigenen Fähigkeiten reduziert werden – McLuhen spricht sogar von Amputation.

Wenn wir das Kochen die Extension der Verdauung betrachten, so können wir den Konsum als erweiterten Stoffwechsel sehen. Mit der zunehmenden Vernetzung durch den Handel scheinen wir mit anderen Menschen zu einem immer kompakteren Organismus uns zu entwickeln, dessen Zellen jeder von uns darstellt, Medien und Telekommunikation als Nervensystem, das Internet als Gedächtnis.
Diesen globalen Organismus nennt Teilhard die Noosphäre. Diese Noosphäre ist der, durch Technik und Kultur erweiterte Raum der Biosphäre.

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Weiterführende Literatur

Dreisternekoch als Fastfood-Unternehmer: Ferran Adriàs "Fast Good"

fg.pngDass hierzulande auch Sterneköche immer wieder in Fernsehsendungen aufkreuzen um dort ein wenig herumzublödeln und nebenher noch ein Gericht zuzubereiten, das das Fernsehpublikum zum Glück weder riechen noch schmecken muss, ist verständlich. Irgendwoher müssen sie ihr Sternehobby ja finanzieren, denn nur ganz wenige der Dreisternerestaurants können kostendeckend operieren. Zu groß die Anforderungen der Gastrokritiker an Einrichtung, Personalschlüssel und natürlich auch die Qualität der Lebensmittel. Und irgendwo in der Nähe von 300 Euro liegt dann doch die Schmerzgrenze dafür, was man für ein Menü verlangen kann.

Der beste Koch der Welt, Ferran Adrià, geht auch hier einen etwas anderen Weg. Er kocht nicht für Kerner, sondern hat zusammen mit NH-Hoteles eine Fast-Food-Kette auf Franchise-Basis gegründet. Auf den ersten Blick mag das überhaupt nicht zusammengehen, aber wenn man sich mit seiner Philosophie näher auseinadersetzt, ergibt das durchaus Sinn. Adrià spricht sich immer wieder dafür aus, die Qualität von Produkten gänzlich unabhängig von ihrem Preis zu bewerten. Es geht nicht um Luxus, sondern um den Versuch, auf experimenteller Grundlage und in Kooperation mit Experten aus der Lebensmittelindustrie eine Küche zu entwickeln, die Glück verschafft.

Warum sollte sich dieses Prinzip nicht auch auf belegte Brötchen anwenden lassen – also zum Beispiel mit dem Ziel, einen Hamburger zu entwickeln, der im Unterschied zu der gewöhnlichen Systemgastronomie ein gutes Geschmackserlebnis bietet, gesund ist und auch noch einigermaßen bezahlbar. Natürlich geht es hier nicht um handgeformte Sphärenravioli, die mit einem mehrminütigen Begleittext am Tisch serviert werden, aber: warum nicht die Erkenntnisse der Taller-Experimentierküche auch in den Massenmarkt zurückspeisen. Das magische Dreieck heißt: „rápido – con sabor – sano“ (schnell – wohlschmeckend – gesund).

fast-good.pngWie das konkret aussieht, kann man auf der Webseite von Adriàs Fastfoodkette imit dem programmatischen Namen „Fast Good“ bewundern. Da gibt es zum Beispiel ein Hähnchen thailändischer Art mit Basmatireis, einen infantilen Minihamburger, der sich besonders „für die kleinen Gourmets“ eignen soll sowie diverse Panini. Aber auch kalte Speisen wie Salate, Tapas oder Parmesanbrioches gibt es, ganz zu schweigen – und hier erkennt man den Meister – von den zahlreichen Espumas als Nachtisch.

espumas.pngDie Preise liegen zwar über den entsprechenden Angeboten der Konkurrenz aus den USA, dafür scheinen die Speisen aber gut anzukommen (allerdings meinte Siebeck dazu: „Immerhin dürfte es jetzt auch dem Bustouristen möglich sein, bei Ferran Adrià zu essen, was bisher, im El Bulli, nur Steuerhinterzieher nach langer Vorbestellung schafften“). So schreibt Luca über den „Good Burger„, es sei der beste Hamburger seines Lebens gewesen. Die Webseite ist sehr Web-Zwei-Nullig, nicht nur was das Layout betrifft, sondern auch in der Interaktivität: die Nutzer können die einzelnen Speisen kommentieren und auf einer Skala von 1-5 Punkten bewerten. Außerdem: Unter dem Titel „La opinión de nuestro chef“ bloggt Ferran Adrià selbst.

Mittlerweile gibt es Filialen in Barcelona, Madrid, Valencia und auf Gran Canaria sowie in Chile. Deutschland ist noch nicht auf der Fast Good-Landkarte verzeichnet. Wer sich dafür berufen fühlt, kann sich bei Adrià als Franchisenehmer bewerben. Oder man besucht die ebenfalls von Adrià und NH-Hoteles gemeinsam entwickelten Nhube-Restaurants am Stuttgarter oder Frankfurter Flughafen oder in Nürnberg.

Andere zu diesem Thema:

Esskultur für Außerirdische – zur Bedeutung des menschlichen Anbisses

1977 startete die interstellare Raumsonde Voyager 1 ins All. Mit an Bord: die berühmte goldene Schallplatte „Sounds of Earth“, die nicht nur eine gedruckte Grußbotschaft von UN-General Kurt Waldheim an unsere außerirdischen Mitbewohner übermittelt, sondern auch versucht, in 55 Sprachen „Herzliche Grüße an alle“ abspielt, 90 Minuten irdischen Musikgenuss sowie 115 analog gespeicherte Bilder über uns Menschen. Immerhin eines dieser Bilder widmet sich dem Essen und entfaltet in triadisches Grundmuster der menschlichen Nahrungsaufnahme: Lecken, Beißen und Gießen:

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Ich lasse die lustvoll leckende Doppeleiskugelesserin sowie den gierig gießenden Wassertrinker einmal außer Acht und konzentriere mich auf die sich etwas unterhalb des Bildzentrums befindende Figur des Essers: Ganz abgesehen von der an Gert Fröbe erinnernden Physiognomik, die vermutlich in ihrer Massigkeit (diese Backen!) auf einen Genussmenschen und vielleicht auch die anabole Funktion der Nahrungsaufnahme verweisen soll, und ebenso abgesehen von dem nach unten gesenkten Blick des Essers ist doch bemerkenswert, welches Bild des menschlichen Essers hier übermittelt wird: Das Weißbrot ebenso großzügig getoastet wie geizig (mit Wurst? Käse?) belegt. Der Anbiss erfolgt von den breiteren Seiten des Brotquadrats und zwar erst von der einen, dann von der anderen.

Das ist natürlich im Kontext der doch sehr durchdachten Konstruktion der golden record kein Zufall im Sinne von: „Es tut mir leid, die Aufnahme war nichts, beiß doch noch einmal von der anderen Seite ab“. Sondern die dem Betrachter zugewandte Seite (zumindest, wenn man eine analoge räumliche Wahrnehmung von Außerirdischen voraussetzen kann, siehe dazu auch Claus Pias lesenswerte Überlegung) soll die Bissspuren des Menschen demonstrieren. Es geht hier also nicht wie man eigentlich meinen würde darum, dass die Speisen dem menschlichen Körper zugeführt werden und auf diese Weise ihre Geschmacks- und Nährstoffe abgeben, sondern um das genaue Gegenteil: um den Abdruck des Menschen in der Speise.

Dieser Aspekt des Essens spielt allerdings in der Kulinarik meines Wissens bislang noch keine Rolle. Genießen und Schmecken wird immer vom Ausgangspunkt des Subjekts gesehen und auf die Sinneswahrnehmungen bezogen, die im Menschen ausgelöst werden. Die Wahrnehmung der eigenen Einschreibung in die Materie – und immerhin haben wir es hier vermutlich mit einem Grundbedürfnis des Menschen zu tun, das am Wurzel des künstlerischen Ausdrucks steht – wird aus der Genußerfahrung ausgeblendet. Besonders deutlich wird das bei den molekulargastronomischen Degustationsmenüs, die mit einer Bewegung im Mund des Gourmets verschwinden und nur einen leeren Löffel hinterlassen.

Zu überlegen wäre jedoch, ob die neue Wertschätzung der Textur nicht auch zur Folge haben könnte, den Einschreibungscharakter des menschlichen Essens zu perfektionieren, also Speisen zu kreieren, die nach dem ersten Bissen eben nicht nur eine Defizitwahrnehmung verursachen – die vom Chef intendierte Gestalt ist nicht mehr intakt -, sondern zur essthetischen Erfahrung eigener Art wird. Ein Beispiel aus der Natur fällt mir hier auf Anhieb ein: der Anbiss einer frischen, saftigen Feige, die erst dadurch ihr kernig-süßes Innenleben offenbart und gleichzeitig durch ihre Plastizität wortwörtlich vom Esser in eine neue Gestalt gepresst wird.