Schlagwort-Archiv: kultur

Kommensalität und Kommunikation

rembrandt-belsazar.jpgDass Essen verbindet, dürfte keine große Überraschung sein. So hat die Ethnologie dafür einen eigenen Fachbegriff geprägt, die „Kommensalität“, und gerade in den abschätzig als „einfache“ Kulturen bezeichneten Gruppen unendlich komplexe Regelwerke gefunden, die eine Ordnung schaffen, wer mit wem wo was essen darf. Kulturgeschichtlich war Essen vermutlich niemals die einfache Angelegenheit, als die es immer wieder dargestellt wird – man setzt sich zusammen bei einem guten Mahl und genießt. Mitnichten. Man denke zum Beispiel an die dem indischen Kastensystem innewohnenden Vorbote der Kommensalität unterschiedlicher Kasten und die überlebensgroße Bedeutung der Reinheitsideen in diesem Symbolkomplex (vgl. dazu diesen Aufsatz von Jakob Rösler).

Aber je stärker und schärfer die Regeln, desto mehr Möglichkeiten gibt es, sie in bestimmten Situationen zu übertreten und dadurch eine höchst bedeutendes Zeichen zu setzen. So zum Beispiel Gandhi in dem überlieferten Zitat: „Den Armen nähert sich der Gott in der Form der Speise.“ Oder die Gastmahle des historischen Jesu, die sich im Turnerschen Sinne als egalitäre Anti-Struktur verstehen lassen, da sie „… zutiefst die Unterscheidungen und Rangordnungen, die Frauen und Männern, Armen und Reichen, Heiden und Juden verschiedene Plätze anweisen“ (JD Crossan, zitiert nach Christian Streckers Dissertation „Die liminale Theologie des Paulus“ aus dem Jahr 1996) für eine begrenzte Zeitspanne außer Kraft setzen (wie auch der Karneval).

Aber die Beziehung zwischen dem Essen und der Gemeinschaft ist eher als Wechselbeziehung vorzustellen. Auf der einen Seite kann der viel zu oft übersehene Zeichencharakter des Kochen und Speisens als Katalysator von Gemeinschaft werden. Auf der anderen Seite kann die gefühlte Gemeinschaft auch die Bedeutung des Essens aufladen. Deutlich wird diese Bedeutung von Kommensalität in dem folgenden Zitat des Kochwissenschaftlers Hervé This:

The fact is that cooking is about giving people pleasure. Why did our grandmothers give us good food to eat? Technically, they were simply yokels. I had two grandmothers. One made delicious food, she spilled over with love. We weren’t eating protein, lipids and glucides, we were eating my grandmother’s love. The other was thin, unloving, she couldn’t give other people pleasure and she was an awful cook. Eating is also about relationships.

Doch in beiden Fällen geht es um den Zeichencharakter des Essens, denn nicht nur „Liebe“ verweist auf die semantische Ebene, sondern auch die wissenschaftliche Sprache der Proteine, Lipide und Kohlehydrate ist selbstverständlich nur weiteres – historisch jüngeres – Sprachspiel, das als Rahmen für das Dekodieren des Speisens verwendet werden kann.

(Abbildung: „Das Gastmahl des Belsazar“ von Rembrandt van Rijn, 1635)

Natur / Kultur

Prometheus bringt den Menschen das Feuer

Auch wenn der zum Teil heftig geführte Meinungsaustausch über Sinn und Unsinn der Molekulare Küche nicht überrascht, so öffnet er direkt oder beispielhaft den Blick auf einige zentrale Aspekte der Bedeutung von Kultur.

Neue Techniken verändern immer auch den, der sie nutzt – oft stärker als seine Umwelt, die er mit der neuen Technik beeinflussen will. Vieles davon hat in einiger Ausführlichkeit Herbert Marshal McLuhan beschrieben. (Nicht jede Technik ist allerdings das, was wir im DLD-Deutsch als disruptiv bezeichnen.)

Je weiter man in der Menschheitsgeschichte zurückgeht, desto mehr verschwimmt ohnehin der Technische „Fortschritt“ mit der biologischen Evolution: die Beherrschung des Feuers ist sowohl der Beginn der Küche als auch der Anfang des modernen Menschseins schlechthin. Es ist offenbar die Natur des Menschen, zu kochen – es ist die Natur des Menschen, Kultur zu entwickeln.

Zu dieser Diskussion Natur/Kultur des Kochens möchte ich im Folgenden einige mehr oder weniger unzusammenhängende Gedanken beitragen:

1. Die erhabene Natur unseres Körpers – vom Kochen und Verdauen.
2. Triumph der Apparate Triumph der Apparate – verarbeitete Speisen funktional einfach, strukturell komplex
3. Slow Food – nicht langsam gegessen, sondern langsamer zubereitet
4. Roh – gekocht – verfault
5. Auf dem Weg zur Noosphäre – Kochen als Erweiterung unseres Körpers

Die erhabene Natur unseres Körpers

Prometheus bringt den Menschen das Feuer

vom Kochen und Verdauen.

– Natur/Kultur, Teil 1 –
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Ernährung steht zu Kochen wie die Fortpflanzung zu Erotik. Essen und Sexualität ist gemeinsam, dass wir, getrieben von unseren – natürlichen – körperlichen Bedürfnissen versuchen uns gleichzeitig mit deren Befriedigung Genuss zu verschaffen. Was uns beim Essen schmeckt, lässt sich in undurchdachten Rationalisierungen leicht auf Anpassung an die Umwelt im Lauf unserer biologischen Evolution reduzieren. Der Bedeutung von Kochen und Essen nähern wir uns dadurch allerdings nicht an.

In einem Zimmer sitzt eine Familie um einen Tisch; allerdings nicht auf Stühlen sondern auf Toiletten. Der Sohn der Familie flüstert seiner Mutter zu, dass er etwas essen möchte. Diese reagiert verschämt und begleitet ihn in ein Kabinett, in dem er in Abgeschiedenheit seine Notdurft des Essen verrichten kann.

Wir stehen durch die surreale Umkehr von Essen und Verdauen aus Buñuels Das Gespenst der Freiheit, auf einmal auf der anderen Seite dieser scheinbare Linie zwischen der Kultur Essen und der Natur Verdauen. Wie bei Sexualität sind auch Abbildungen oder Erzählungen über die Verdauung so wirkmächtig, dass uns die Bilder unmittelbar berühren und keine Distanz zulassen – uns zu Pornografie werden. Haben wir erst einmal an dieser Pest der Phantasmen angesteckt, werden wir diese Bilder nur schwer wieder los. Wir können das als eine Machtlosigkeit erleben.

Während Kultur, wie anderswo schon erwähnt, bis in die frühe Neuzeit verstanden wird, als Anstrengung der Menschen, den menschenfeindlichen Gewalten der Umwelt Stück für Stück Boden abzuringen, nehmen in der Neuzeit mehr und mehr die Städte mit ihren verarmenden Heerscharen entfremdeter Arbeiter und den daraus folgenden, ungelösten sozialen und hygienischen Problemen die Rolle des Widermenschlichen ein. Dazu kommt das bürgerliche Bedürfnis der Abgrenzung von den aristokratischen Ritualen, dem „künstlichen Leben“ am Hof, stark durch Frankreich geprägt.

Die Natur bildet den Fluchtpunkt vor der gefühlten Dekadenz der Kultur. „Mens sana in corpore sano“ führt wie selbstverständlich anti-aristokratische Motive mit gesunder Ernährung zusammen. Natur besitzt für die Menschen der Romantik dabei zwei starke, gegensätzliche Konturen. Sie ist zunächst weder gut noch schlecht – die Natur kann aber aus Sicht der Menschen, die sie betrachten, schön sein, und Natur kann über die Menschen, die ihr ausgeliefert sind erhaben sein und grausam wirken, gerade, weil sie keinen Unterschied zwischen gut und böse macht. Diese dialektische Sicht der Natur als schön und erhaben zieht sich bis in unsere Zeit wie ein roter Faden der Geistesgeschichte. Als Darwins Idee von der Evolution durch Auswahl durchzusetzen begann, war dies ein willkommener Rahmen, den erhabenen Aspekt der Natur überzubetonen und daraus die Rechtfertigung für eigene Grausamkeiten abzuleiten. Die Naturgesetze, d. h. Zusammenhänge, die wir in der Natur beobachten, bekommen in den wirren Ideologien des 19. Jahrhunderts die Rolle von Normen zugeschrieben, d. h. von Gesetzen, an die man sich aus moralischen Gründen halten muss. Dabei wird eine vorkulturelle Natürlichkeit als Leitbild konstruiert.

Den Körper durch Diät reinigen, fasten, entschlacken etc. – mit unserem Essen müssen wir uns wohl auseinander setzen, wenn wir versuchen, wie auch immer, das menschliche Sein unverstellt erleben zu wollen, auf den Grund der Existenz zu kommen. In der Ideologie der „Natürlichkeit“ verliert das Fasten aber seine spirituelle Bedeutung und wird zum bewussten Gegensatz kultivierten Essens: zurück zu roher Kost, wie sie in 1,6 Millionen Jahren Menschheitsgeschichte nicht mehr verzehrt wurde.

Eine schöne Illustration der teilweise skurrilen Naturbewegung liefert der Roman/Film Road to Wellville von T.C. Boyle / Allan Parker. Alles dreht sich in Mr. Kelloggs Hospital Welleville um die Natur unseres Körpers und insbesondere obsessiv um Verdauung.
Die Barbarei des dritten Reiches wird dem Besucher der Dokumentationsstätte Obersalzberg nicht zuletzt beim Blick auf die Speisekarte offenbar: zu jeder Malzeit geschrotete Körner mit Fruchtsaft; kein Wunder, dass sich dann die Verdauung im Verhältnis zum Essen zum eigentlichen Thema aufbläht.

[Weiter zu Natur/Kultur, Teil 2: Triumph der Apparate]

Weiterführende Literatur

Triumph der Apparate

Prometheus bringt den Menschen das Feuer

verarbeitete Speisen sind funktional einfach, strukturell komplex

– Natur/Kultur Teil2 –
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Das ist ein Merkmal des Fortschritts: Alles wird strukturell komplexer, um funktionell einfacher zu werden.
Vilém Flusser

Künstlichkeit – das ist der Vorwurf, dem sich die Molekulare Küche ausgesetzt sieht. Kurti und This ist es gelungen, insbesondere die analytischen Techniken der Lebensmitteltechnik in unsere Küchen zu führen; Adrià hat uns Geliermittel salonfähig gemacht, die zuvor nur industriell eingesetzt wurden, Blumenthal beschenkt uns mit Hummerbrühe, gefriergetrocknet, wie einen Brühwürfel.

Noch vor 100 Jahren mussten zumindest die Haushalte auf dem Lande alle Schritte des Kochens selbst in der Hand behalten – beginnend beim Anbau der Rohstoffe, dem Schlachten des Viehs, dem Schlagen des Holzes zum Heizen des Herdes, bereiten der Butter etc. Das bedeutet auf der einen Seite viel Arbeit, auf der anderen Seite aber auch die vollständige Beherrschung der Technik.

Convenience-Food hat ja seinen Namen nicht von ungefähr: je mehr wir das Kochen industrialisieren, an Spezialisten abgeben, desto weniger sind wir Herr über unsere Ernährung, aber auch – mindestens genauso wichtig – über unseren Geschmack!

Wieder hat bereits McLuhan pointiert, dass der Manager, der sich streng an seinen Terminplan halten muss, als Servo-Mechanismus seiner Uhr funktioniert, genau, wie man den Indianer, der sein Kanu rudert, als Motor des Kanus funktioniert. Folgen wir den Apparaten, funktionieren diese nicht mehr als Erweiterung unserer Sinne, sondern wir nehmen die Funktion der Erweiterung der Apparate ein.
Mehr dazu hier.

Und hier sind wir am Punkt der Kritik an der Molekularen Gastronomie angekommen: flüssigen Stickstoff werden wir uns nie selbst kondensieren, Alginat kaum selbst extrahieren. Es wird uns offenbar, dass wir das Heft vielleicht schon aus der Hand gegeben haben. Wer backt noch Brot? Wer wurstet selbst? Und nur Experten bereiten sich die – fürs tägliche Kochen doch unverzichtbaren – Fonds noch regelmäßig selbst.

Molekulare Küche ist die Synthese dieser Gegensätze: Sie geht dem Kochen analytisch auf den Grund und gibt uns dadurch mehr Kontrolle, als je zuvor; analytisch bedeutet ja gerade Schritt für Schritt; Molekulare Küche ist ja alles andere, als Conveniece Küche, aber sie akzeptiert die Realität der „Entfremdung“, der zunehmenden Distanz von weiten Teilen des Produktionsablaufs.

Molekulare Küche ist progressiv (im ideologischen Sinn).

[Weiter zu Natur/Kultur Teil 3: Slow Food – Rückeroberung der Küche]

Weiterführende Literatur

Mutti statt Wissenschaft? Pollans Kampf gegen die moderne Ernährung

indefensefood_cover_thumb.jpgSpringt jetzt auch noch der Guardian auf den Zug der Gastronomiewissenschaftskritik auf? Die Aufforderung „junk the science – and rediscover the joy of eating“ in Michael Pollans Gastbeitrag „Consuming passion“ (ein Auszug aus dem Buch „In Defense of Food: An Eater’s Manifesto„, das gerade eben erschienen ist) vermittelt zunächst diesen Eindruck. Und während Harold McGee auf der anderen Seite des Atlantiks von der Hitze als wichtigster Zutat für die Speisezubereitung erzählt, wird hier das Dogma der rohen Kost zum Besten gegeben:

Eat food. Not too much. Mostly plants. That, more or less, is the short answer to the supposedly incredibly complicated question of what we humans should eat in order to be maximally healthy.

Genau in diese Richtung geht der Artikel dann auch weiter: Zurück zur natürlichen Einfachheit anstatt der überkomplexen modernen Ernährungsweise. Pollans Kritik an der Verwissenschaftlichung der Lebensmittelindustrie, die er z.B. an den langen Zutatenlisten festmacht, greift jedoch ins Leere: das Argument, dass präzise Auflistung aller Zutaten den Eindruck vermitteln, Fertigprodukte seien Frischware überlegen, lässt sich nur schwer nachvollziehen. Ebenso merkwürdig, eine Kuh dafür zu beneiden, dass sie im Unterschied zum Kulturwesen Mensch nicht lange überlegen muss, bevor sie ins Gras beißt. Wo die Natur unwiderruflich verloren ist – und immerhin gesteht Pollan dem Menschen zu, ein Kulturwesen zu sein – muss es dann wenigstens die Überlieferung, also: die Mutter, sein, die das beste Vorbild für die Speiseplangestaltung abgibt. Aber leider, so Pollan, essen wir heute nicht mehr das, was unsere Eltern gegessen haben, bzw: „Her parents wouldn’t recognise the foods we put on the table“. Heute ist es weder die Natur, noch die Mutter, sondern die Regierung, Wissenschaft, Medien und die Lebensmittelindustrie, die entscheiden, was auf den Tisch kommt. Diese Achse des kulinarisch Bösen ist dann auch Schuld an den Zivilisationskrankheiten. Daher lauten seine Ratschläge für eine gute (und nicht bloß „gesunde“ Ernährung):

For example, I’d suggest that you eat meals, not snacks; eat wild foods whenever possible; and avoid any product whose ingredients are unfamiliar, unpronounceable, or more than five in number.

Freilich ist das Anliegen sinnvoll: die Entmündigung des dinierenden und nicht bloß Nahrung aufnehmenden, wenn man Brillat-Savarins Unterscheidung hier heranziehen möchte, zu bekämpfen. Nur ist der kulturkritisch-nostalgische Ansatz dafür schlicht die falsche Waffe. Denn: natürliche Instinkte in der Nahrungsaufnahme oder traditionsgestützte Nahrungsvorschriften (das System „Mutti“) sind nicht gerade Beispiele für eine freie Speisenwahl. Gerade die Molekulargastronomie ist unserer Meinung nach ein hervorragendes Beispiel für wissenschaftlich-kulinarische Aufklärung, die beste, unbehandelte, lokale Zutaten mit High-tech verbindet und zudem das Spielerische Element nicht vergisst. Und den Mythen des nutritionism nun wirklich nicht aufsitzt.

Hippokrates

180px-hippokrates.jpgWeil es gerade so gut zu der merkwürdigen pseudo-naturalistischen Kritik an der molekularen Gastronomie passt, hier ein Zitat von Hippokrates von Kós, der bereits vor 2400 Jahren keinen Zweifel an der Widernatürlichkeit der menschlichen Diät hatte:

Ich meine, am Anfang hat auch der Mensch solche Nahrung [d.h. tierische Nahrung wie Früchte, Laub und Gras] zu sich genommen. Die jetzige Ernährung aber ist nach meiner Ansicht erst im Verlauf langer Zeit erfunden und künstlich zubereitet worden. Denn die Menschen litten viel Schlimmes von zu schwerer, für Tiere passender Nahrung, indem sie rohe, ungemischte Kost von starker Qualität zu sich nahmen … (aus: Die alte Heilkunst, S. 577 der Littré-Ausgabe)

Mal wieder: Zurück zur Natur vs. Molekularküche

bon-appetit-january-08-coversmall.jpgBon appétit hat für die TODAYShow (NBC) die gastronomischen Höhepunkte des vergangenen Jahres zusammengefasst und gibt auch einen kurzen Ausblick auf mögliche Topthemen im Jahr 2008. Mit dabei auf die molekulare Gastronomie – und zwar unter der Überschrift „… And the trends that we might not need“:

On the one hand this makes sense, because it is the science of figuring out why food reacts the way it does under certain circumstances, like applying heat or cold or steam. But the term has come to describe an approach where these understandings are then used to present food in whole new ways, and they are often ways that are very far removed from anything found in nature — such as being presented with a globe made from gelatin or sugar and inside is a flavored air. It’s edible, so I guess we can call it food. And it is intriguing and can be fun … but someone just give me a perfectly ripe peach!

Die übliche verfehlte Zurück-zur-Natur-Rhetorik, die sich der simplen Wahrheit verschließt, dass nahezu jede vom Homo Erectus praktizierte Art der Nahrungszubereitung Kultur / Technik ist und nicht „Natur“. Wir haben jedenfalls kein Problem damit, dass eine Crema Catalana „very far removed from anything found in nature“ ist.

(via foodie obsessed)