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Die erhabene Natur unseres Körpers

Prometheus bringt den Menschen das Feuer

vom Kochen und Verdauen.

– Natur/Kultur, Teil 1 –
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Ernährung steht zu Kochen wie die Fortpflanzung zu Erotik. Essen und Sexualität ist gemeinsam, dass wir, getrieben von unseren – natürlichen – körperlichen Bedürfnissen versuchen uns gleichzeitig mit deren Befriedigung Genuss zu verschaffen. Was uns beim Essen schmeckt, lässt sich in undurchdachten Rationalisierungen leicht auf Anpassung an die Umwelt im Lauf unserer biologischen Evolution reduzieren. Der Bedeutung von Kochen und Essen nähern wir uns dadurch allerdings nicht an.

In einem Zimmer sitzt eine Familie um einen Tisch; allerdings nicht auf Stühlen sondern auf Toiletten. Der Sohn der Familie flüstert seiner Mutter zu, dass er etwas essen möchte. Diese reagiert verschämt und begleitet ihn in ein Kabinett, in dem er in Abgeschiedenheit seine Notdurft des Essen verrichten kann.

Wir stehen durch die surreale Umkehr von Essen und Verdauen aus Buñuels Das Gespenst der Freiheit, auf einmal auf der anderen Seite dieser scheinbare Linie zwischen der Kultur Essen und der Natur Verdauen. Wie bei Sexualität sind auch Abbildungen oder Erzählungen über die Verdauung so wirkmächtig, dass uns die Bilder unmittelbar berühren und keine Distanz zulassen – uns zu Pornografie werden. Haben wir erst einmal an dieser Pest der Phantasmen angesteckt, werden wir diese Bilder nur schwer wieder los. Wir können das als eine Machtlosigkeit erleben.

Während Kultur, wie anderswo schon erwähnt, bis in die frühe Neuzeit verstanden wird, als Anstrengung der Menschen, den menschenfeindlichen Gewalten der Umwelt Stück für Stück Boden abzuringen, nehmen in der Neuzeit mehr und mehr die Städte mit ihren verarmenden Heerscharen entfremdeter Arbeiter und den daraus folgenden, ungelösten sozialen und hygienischen Problemen die Rolle des Widermenschlichen ein. Dazu kommt das bürgerliche Bedürfnis der Abgrenzung von den aristokratischen Ritualen, dem „künstlichen Leben“ am Hof, stark durch Frankreich geprägt.

Die Natur bildet den Fluchtpunkt vor der gefühlten Dekadenz der Kultur. „Mens sana in corpore sano“ führt wie selbstverständlich anti-aristokratische Motive mit gesunder Ernährung zusammen. Natur besitzt für die Menschen der Romantik dabei zwei starke, gegensätzliche Konturen. Sie ist zunächst weder gut noch schlecht – die Natur kann aber aus Sicht der Menschen, die sie betrachten, schön sein, und Natur kann über die Menschen, die ihr ausgeliefert sind erhaben sein und grausam wirken, gerade, weil sie keinen Unterschied zwischen gut und böse macht. Diese dialektische Sicht der Natur als schön und erhaben zieht sich bis in unsere Zeit wie ein roter Faden der Geistesgeschichte. Als Darwins Idee von der Evolution durch Auswahl durchzusetzen begann, war dies ein willkommener Rahmen, den erhabenen Aspekt der Natur überzubetonen und daraus die Rechtfertigung für eigene Grausamkeiten abzuleiten. Die Naturgesetze, d. h. Zusammenhänge, die wir in der Natur beobachten, bekommen in den wirren Ideologien des 19. Jahrhunderts die Rolle von Normen zugeschrieben, d. h. von Gesetzen, an die man sich aus moralischen Gründen halten muss. Dabei wird eine vorkulturelle Natürlichkeit als Leitbild konstruiert.

Den Körper durch Diät reinigen, fasten, entschlacken etc. – mit unserem Essen müssen wir uns wohl auseinander setzen, wenn wir versuchen, wie auch immer, das menschliche Sein unverstellt erleben zu wollen, auf den Grund der Existenz zu kommen. In der Ideologie der „Natürlichkeit“ verliert das Fasten aber seine spirituelle Bedeutung und wird zum bewussten Gegensatz kultivierten Essens: zurück zu roher Kost, wie sie in 1,6 Millionen Jahren Menschheitsgeschichte nicht mehr verzehrt wurde.

Eine schöne Illustration der teilweise skurrilen Naturbewegung liefert der Roman/Film Road to Wellville von T.C. Boyle / Allan Parker. Alles dreht sich in Mr. Kelloggs Hospital Welleville um die Natur unseres Körpers und insbesondere obsessiv um Verdauung.
Die Barbarei des dritten Reiches wird dem Besucher der Dokumentationsstätte Obersalzberg nicht zuletzt beim Blick auf die Speisekarte offenbar: zu jeder Malzeit geschrotete Körner mit Fruchtsaft; kein Wunder, dass sich dann die Verdauung im Verhältnis zum Essen zum eigentlichen Thema aufbläht.

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Weiterführende Literatur