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Albert und Ferran Adrià: Das wissenschaftliche Lexikon der Gastronomie

elbulli.pngImmer wieder hat Ferran Adrià, wenn er nach seiner „wissenschaftlichen Kochweise“ gefragt wurde, betont, dass an seiner Avantgardeküche (leider) keine nennenswerte wissenschaftliche Beteiligung auszumachen sei. Die Wissenschaftler haben ihn und seine elBulli-Kollegen weitgehend im Stich gelassen, so dass sie sich die erforderlichen chemischen und physikalischen Grundlagen für die Herstellung der weltberühmten Espumas, Gels und Pulver selbst aneignen mussten. Dieses Buch ist gewissermaßen die Reaktion darauf – ein selbstbewusstes Statement, das aussagen soll: Wenn die Wissenschaft nicht auf uns zugehen will, dann gehen wir eben auf die Wissenschaft zu und schreiben das Nachschlagewerk, auf das wir so lange warten, eben in Eigenregie.

Nun hat der Hampp-Verlag dieses 2006 auf katalanisch das erste Mal erschienene „Lèxic cientific gastronómic“ binnen Jahresfrist auch dem deutschsprachigen Publikum zur Verfügung gestellt. Der Zeitpunkt könnte nicht besser gewählt sein, denn mit Erscheinen des Buchs hat der Adrià-Schüler Juan Amador für seine Version der nueva nouvelle cuisine seinen dritten Michelinstern erhalten, in zahlreichen Großstädten sind molekulare Kochkurse der Renner und auch die Massenmedien berichten zunehmend über die avantgardistische wissenschaftliche Küche.

Gleich auf den ersten Blick erfreut „Das wissenschaftliche Lexikon der Gastronomie“, das pikanterweise (Adrià hat sich immer wieder gegen das M-Wort gewehrt) den Untertitel „Das Grundlagenwerk der Molekularen Küche“ erhalten hat, durch seine hochwertige Ausstattung: durchgehend auf Hochglanzpapier gedruckt, mit vielen spektakulären, zum Teil doppelseitigen Fotografien aus der taller-Experimentalküche von Albert und Ferran Adrià, einem Daumenregister, übersichtlichen Tabellen und gut verständlichen Illustrationen chemisch-physikalischer Prozesse.

Jeder Eintrag ist auf dieselbe übersichtliche Weise gegliedert: Zuerst wird das jeweilige Stichwort einem oder mehreren Themenfeldern – die Oberrubriken lauten: Zusatzstoffe, Zusammensetzung von Lebensmitteln, ernährungswissenschaftliche Begriffe, wissenschaftliche Begriffe, sensorische Eigenschaften, physikalische oder chemische Verfahren, Mineralien, Technologie – zugeordnet. Danach wird das Stichwort in einem Satz knapp und allgemein verständlich definiert. Es folgen Informationen zu Herkunft oder Herstellung, Zusatzinformationen, Verwendungshinweise sowie in einigen Fällen auch Tipps zur richtigen Dosierung. Chemische Strukturformeln, CAS-Nummern oder Informationen zu den entsprechenden R- und S-Sätzen sucht man allerdings vergebens – Zielgruppe sind weniger ausgebildete Chemiker als experimentierfreudige Köche.

Auch wenn man schon den Oxford Companion to Food, den Larousse Gastronomique sowie die kochwissenschaftlichen Standardwerke von This, McGee und Vilgis im Regal stehen hat, ist dieses Buch eine lohnende Ergänzung, um sich mit Informationen über moderne Lebensmittelzusatzstoffe, die zum Teil noch gar nicht in der Gastronomie angekommen sind, vertraut zu machen. Bei zahlreichen Stoffen ist über die Verwendung in der Gastronomie zu lesen: „Im Versuchsstadium“, was vermutlich soviel bedeutet wie: momentan ist elBulli der einzige Ort, an dem man mit etwas Glück schon Gerichte damit degustieren kann.

Aber dieses Lexikon ist nicht nur zum Nachschlagen geeignet. Auch kulinarhistorisch ist dieses Buch eine Fundgrube, denn viele Einträge skizzieren in sachlicher, knapper Sprache das Bild einer wahrhaftig ikonoklastischen Kochweise, die keine traditionellen Grenzen mehr akzeptiert, wenn es um das Erreichen bislang unerreichbarer Geschmackserlebnisse geht. So ist zum Beispiel zur Buttersäure folgendes Anwendungsbeispiel zu lesen: „Verwendung, um z.B. Kartoffeln oder Paniertem die sensorischen Eigenschaften von Käse zu übertragen.“

Grundsätzlich ist allerdings die Frage nach der Funktion gebundener Lexika im digitalen Zeitalter zu stellen. Denn viele der Informationen hätte man sich auch aus dem Internet – allen voran der Wikipedia, die einiges über Lebensmittelzusatzstoffe weiß – zusammensuchen können. Jedoch: Was die Haptik betrifft, sind digitale Nachschlagewerke keine echte Konkurrenz für hochwertig produzierte Bücher wie das Adriá-Lexikon. Außerdem: Wer will sein Notebook neben den Herd stellen? Fragen wie diese scheinen auch schon die Brüder Adrià beschäftigt zu haben: In der Einleitung fordern sie ihre Leser explizit zur Mitarbeit auf und verstehen ihr Buch ausdrücklich als „Grundstein“ und „Aufruf“, der am Anfang einer Konversation zwischen Köchen und Wissenschaftlern – sowie möglicherweise auch interessierte Laien – stehen soll.

Albert und Ferran Adrià: Das wissenschaftliche Lexikon der Gastronomie. Das Grundlagenwerk der Molekularen Küche, Stuttgart, Hampp, 2007, 286 Seiten, ISBN 3936682194, 35,00 EUR.

Rene Redzepi: nordisk gourmetkøkken statt nueva nouvelle cuisine

noma.jpgWas der Tagesspiegel unter dem Titel „Die Gewürze des Nordens“ schreibt, klingt so, als könne man nur noch dann als Spitzenkoch vor den Kritikern des Guide Michelin bestehen, wenn man sich ausdrücklich von der Molekulargastronomie distanziert. Der Anlass ist die Auszeichnung von Rene Redzepi, der in Kopenhagen das Restaurant „Noma“ führt, mit zwei der begehrten Sterne:

Redzepi hat bei zwei Giganten der Küche gelernt, bei Ferran Adria in Katalanien und bei Thomas Keller in Kalifornien, doch er ist so schlau, nichts von diesen höchst gegensätzlichen Chefs direkt zu übernehmen. Das heißt speziell, dass er kaum Anleihen bei Adrias avantgardistischer Küche der Dekonstruktion macht, sondern auf bester handwerklicher Basis einen eigenen Weg geht.

Da sind wir doch gespannt, wie denn diese undekonstruktivistische Küche so aussieht, die ihm metaphorischen Terrain des Handwerks zu Hause ist und nicht in der kalten, sterilen Welt der experimentellen Wissenschaft, wie sie Adriàs „Taller“ sicher für den Tagesspiegelautor Bernd Matthies verkörpern dürfte. Liest man aber die im folgenden Absatz vorgestellten Gerichte, so könnte man sich doch die Frage stellen, was hier denn so ganz anders aussieht, beziehungsweise, was ein handwerklich hergestelltes „intensiv nach Austern schmeckendes Gelee“ von einem auf auf wissenschaftlicher Grundlage entworfenen „intensiv nach Austern schmeckenden Gelee“ unterscheiden soll. Oder wie Matthies dazu kommt, in Redzepis „Samsø-Kartoffeln ‚in Texturen'“ den eigenen Weg sieht, der so gar nichts mit der Avantgardeküche zu tun hat?

Der Fehler scheint mal wieder darin zu liegen, dass die Bedeutung der molekularen Gastronomie bzw. der nueva nouvelle cuisine als Paradigmenwechsel des Kochens zu Anfang des 21. Jahrhunderts übersehen wird. Es geht nicht um substanzlose Aha-Effekte auf speziell dafür entworfenen Degustationstellern, sondern um eine neue Hermeneutik des Geschmacks und die experimentelle Freude daran, konzentrierten Geschmacksideen mit neuen, zum Teil aus der Lebensmittelchemie stammenden Methoden näher zu kommen. Für mich liegen die Samsø-Kartoffeln genau auf dieser Linie. Und sagt Redzepi nicht selbst im gemeinsam mit Claus Meyer verfassten Manifest für eine neue nordische Küche: „The flavor shouldn’t hit you in the face—you have to taste the food and find the flavors yourself.“

(via GourmetReport, Abbildung „NOMA appetizers“ von trixieskips)