„Love it, or hate it.“
Die englische ist für uns Continentals sicher die exotischste unter den abendländischen Küchen. Und nichts ist uns an Leberwurstbrot und Marmeladesemmel gewöhnten Deutschen so fremd, wie die englische Frühstückskultur. Jedenfalls ist das meine Erfahrung. Dabei hat mir seit Kindheit an das Klischee des Engländers überaus imponiert, das sich in meinem Kopf aus Romanen wie In 80 Tagen um die Welt oder Der geheime Garten oder Filmen wie Adel verpflichtet oder Die Brücke am Kwai entwickelte.
Das viktorianische und post-viktorianische Königreich hatte in seiner in splendid Isolation tatächlich vieles entwickeln können, was mir die Stereotype des Britischen bei meinen regelmäßigen Aufenthalten in England eher bestätigen als ausräumen konnte. Fremd und gleichzeitig faszinierend.
Eine der eigentümlichsten kulinarischen Erfahrungen am Frühstücksbuffet in England ist Marmite.
Marmite ist ein Hefeextrakt. Es wird aus der Hefe gewonnen, die sich beim Bierbrauen als sogenanntes Geläge sammelt. In Wasser gelöst, wird die Hefe gesalzen und solange gekocht, bis die Zellen der Pilze ganz aufgelöst und zu einem zähen, dunkelbraunen Sirup eingekocht sind. Die stark wie Brühwürfel schmeckende Paste wird dünn auf Buttertoast gestrichen.
Das Hefeextrakt enthält sehr viel Glutaminsäure und andere Aminosäuren. Daraus erhält Marmite seinen Geschmack: reinstes Umami. Vor Erfindung der des Hefeextrakt gab es in Europa so gut wie ausschließlich Umami-Würzen tierischen Ursprungs: das Garum der Römer, die Bouillon, Demi Glace oder das Extrait de viande, das in der von Justus von Liebig industriell hergestellt Form eines der ersten Fertiggerichte überhaupt war. Schlecht für Vegetarier, deren Bewegung im Jugendstil mit der Reformernährung Ende des 19. Jahrhunderts besonders in Groß Britannien viele Anhänger fand.
Dabei war es ausgerechnet Justus von Liebig, den sein Fleischextrakt reich gemacht hatte, bereits entdeckt, der entdeckte, dass die in der Fleischbrühe enthaltene Glutensäure und das Inosinphosphat auch in der Brauerhefe zu finden sind, die daher ebenfalls den typisch herzhaften Geschmack nach Fleisch zeigt. Dass es sich dabei tatsächlich um einen Geschmack handelt, der auf der Zunge wahrgenommen wird und nicht um ein Aroma, das mit der Nase aufgenommen wird, war Liebig noch nicht bekannt. Auch wenn es große Gourmets wie Brillat-Savarin oder Escoffier vermutet hatte – die Umami-Rezeptoren auf der Zunge wurden erst 1908 von Kikunae Ikeda entdeckt.
Marmite ist Französisch und bezeichnet einen bauchigen Metall- oder Steinzeugtopf mit Deckel. Ein solcher Topf – symbolisch für das Einkochen der Hefe – ist auch seit 1902 auf dem Logo der Marmite Food Company zu sehen.
Im Englischen ist eine Marmite seit dem 19. Jahrhundert vor allem in der Soldatensprache konnotiert: „A pot-shaped bomb (or, loosly, shell)“, und auch im Französischen hat Marmite einige interessante Nebenbedeutungen. Als Adjektiv heißt es heuchlerisch, scheinheilig, weil der Topf tief und mit einem Deckel verschlossen ist und daher oft weniger leckere Speisen enthielt, als er von Außen versprochen hatte; für einen „Geschmacksverstärker“, der vor allem im ersten Weltkrieg ein billiges Surrogat für Beef Tea an die Front geliefert wird, nicht unpassend! (Noch heftiger im Argot, wo Marmite für eine Prostituierte steht). „faire bouillir la marmite“ bedeutet allerdings schon viel versöhnlicher „das Brot für die Familie verdienen“.
»Wenn ’n Freier (n Bewerber) ins Haus kommt, und man schlägt ihm Eier in’n SchwanzTiegel: dann iss er angenomm’m!; (Pfannkuchn dagegn bedeutet Ablehnung). Auf’m Land koch’n se noch viel: die schmor’n und mischotiern d’n ganzn Tag. Da giebt’s SauerMus und Rauchfleisch; und Öff alla Kock, mi’m Stämmche Petersilj’; ’ne Marmite mit Supp aus Kerb’l und Sauerampfer; Schufflör mit Quendl Kresse und Basilikum – die übrijens vom Fluch’n gedeihen,«;
Arno Schmidt, Abend mit Goldrand
Schon 1907 wurde Marmite von seinem schärfsten Konkurrenten Bovril übernommen, der seit 1990 zum Unilever-Konzern gehört. Bovril ist ein typisches Fleischextrakt und war zur Versorgung von Seeleuten entwickelt worden. Der Name war eine Anspielung auf die Vril, Außerirdische aus dem Science Fiction „The Coming Race“ von Edward Bulwer-Lytton, in dem dieser eine, den Menschen weit überlegene Herrenrasse schildert. Die Assoziation Vril/Bovril ist also ein typischer Werbegag von vor hundert Jahren.
„What is the vril?“ I asked. „I have long held an opinion,“ says that illustrious experimentalist, „[…] I believe, that the various forms under which the forces of matter are made manifest, have one common origin; or, in other words, are so directly related and mutually dependent that they are convertible, as it were into one another, and possess equivalents of power in their action. These subterranean philosophers assert that by one operation of vril, which Faraday would perhaps call ‚atmospheric magnetism,‘ they can influence the variations of temperature—in plain words, the weather; that by operations, akin to those ascribed to mesmerism, electro-biology, odic force, &c., but applied scientifically, through vril conductors, they can exercise influence over minds, and bodies animal and vegetable, to an extent not surpassed in the romances of our mystics. To all such agencies they give the common name of vril.“
Bulwer, The Coming Race
In Deutschland hat sich Marmite nie durchgesetzt – weder als Frühstückszutat, noch zum Suppenwürzen. Hier dominiert Maggi, dem wie kein Anderer Arno Schmidt, der über sich selbst sagt „Kann Maggi blank trinken.“ zahlreiche literarische Denkmäler gesetzt hat, vor allem in seiner „Schule der Atheisten“:
»Heil dem Erfinder des MAGGI. Wo er begrabm liege: HEIL IHM! –«; (und die Hand zu Schweighäuser: ›Wo?‹ – ; (unterm Atem: ›Dér? –: hätt’n NOBEL=Preis verdient gehabt!‹)).