„Just to much“. Tom Sietsema, der Gastro-Kolumnist der Washington Post hat genug von Degustations-Menüs. Als Vorsitzender des James Beard Restaurant Award Commitee ist sein Wort für die Küche Amerikas nicht ohne Bedeutung.
Im Vergleich zum „früher war alles besser“ und „Molekular ist Verrat an der Nouvelle-Cuisine“-Lamento, das viele seiner Kollegen anstimmen, ist die Kritik Tom Sietsemas aber viel differenzierter. Er hat gar nichts gegen Molekulare Küche, er hat offenbar generell nichts gegen Avantgarde-Rezepte. Seine Kritik richtet sich auf das Zelebrieren des Menus als Ritual:
„[Tasting Menues] tend to be too much food and require too much of a time commitment. (They usually seem to take a good three hours per sitting; I’m a diner, not a treaty negotiator.) […] tasting menus rob customers of their sense of control.“
Und das präzisiert er, indem er Mimi Sheraton von der New York Times zitiert:
„I have never had a menu degustation when I have not wished a few dishes had been dropped in favor of others.“
Dieses Zitat ist von 1981 – es ist also kein Phänomen unserer Tage sondern quält Restaurant-Kritiker schon mehr als ein viertel Jahrhundert.
Dieses Zuviel hat seinen Ursprung laut Sietsemas genau in dem Küchen-Stil, der sich das Weiniger-Ist-Mehr als Parole ans Revers heftete:
„The concept […] stretches back to the dawn of nouvelle cuisine there in the 1970s, when chefs began offering customers a sampling of their vast repertoires via numerous petite versions of the appetizers and main courses.“
In Wahrheit greift Sietsema zu kurz – er beschränkt sich auf die Zeitspanne, die er selbst erlebt hat. Der Ursprung des Menüs mit 20 oder mehr Gängen findet sich am französischen Hof im 17. Jahrhundert.
Um die Macht zurück an den zentralen Königshof zu bringen, verlangte Ludwig der XIV., dass alle Höflinge die Hälfte des Jahres mit ihm in Versailles zu verbringen hätten. In Abstufungen wurden die Adeligen dort zu unterschiedlichen persönlichen Handlungen des Königs zugelassen. Der engste Kreis durfte, das ist weithin bekannt, am Leveé teilnehmen, d. h. den König morgens aus dem Bett begleiten. Der große Teil der Hofgesellschaft sah den König aber nur einmal täglich: beim Diner, bei welchem Ludwig am Kopf des Speisesaals sitzend, sich nacheinander duzende verschiedener Gänge servieren lies – für die anwesenden Zuschauer, die der Prozedur im stehen beiwohnten, gleichzeitig Ehre und Demütigung und auf jeden Fall eine enorme Anstrengung. Ludwig der XV. musste sich bereits nicht mehr so stark vor den potenziellen Konkurrenten behaupten, die Macht war fest bei der Krone verankert. Er verlagerte das Essen in einen privateren Speiseraum, ein Bankett im Familienkreis. Aber es blieb bei den vielen Gängen der Speisefolge.
Diese Fremdbestimmtheit des Gastes durch ein festgefügtes Ritual, das Sietsema den Spass an der Molekularen Küche raubt, hat ja auch etwas höfisches. Ist bei „gewöhnlichen“ Restaurantbesuchen unter Geschäftspartnern oder Freunden das Essen oft stark im Hintergrund – „paralinguistisches Beiwerk“, wie der Small-Talk übers Wetter, damit das Gespräch in Gang bleibt, schlägt das Pendel im Fall des Degustations-Menüs genau in die andere Richtung aus. Das Essen ist das einzige Thema – ein Gespräch lassen die Kellner kaum zu, da sie ja alle paar Minuten einen neuen Gang wortreich erklären müssen.
Außerdem verschleiern die kleinteiligen Menüs mit ihrer endlosen Folge an Amuse-Gueules. Es ist deutlich schwieriger, ein stimmiges Menü aus vier oder fünf Gängen zu kochen – da gibt es nämlich keine Kompromisse. Und ein kleiner Schaum auf einem Löffel ist ganz nett – ein ganzer Teller davon ist schlicht ungenießbar; und dass molekulare Küche skalierbar ist, d. h. auch ganze Hauptgänge bestreiten kann, wird einfach nicht glaubwürdig, wenn es dabei bleibt, „ein Schäumchen hier, etwas Frucht-Kaviar da“ in kleinsten Mengen zu servieren.
Der gewaltige Erfolg von Paul Bocuse war es, die Prinzipien der Nouvelle Cuisine zu verallgemeinern und zur Grundlage einer „Hausmanns-Küche“ zu machen, die für jedermann nachzukochen ist, der sich darauf einlässt. Dieser Erfolg ist nachhaltig, ganz anders als die Sensationen der Star-Küche, die die Nouvelle Cuisine in den 80er Jahren so sehr in Verruf gebracht hatten.
Und auch der Erfolg der Molekularküche, wird sich daran messen, inwieweit die Prinzipien verallgemeinert werden können. Mit Büchern wie „On Food and Cooking“ von McGee, den Küchengeheimnissen von Hervé This oder der Serie von Thomas Vilgis ist die Cuisine Investigative aber gut gerüstet und bodenständig genug, den ‚Hype‚ zu überstehen.